Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Die dunklen Krüge der Erinnerung" - Zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin Gertrud Fussenegger. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Als Historikerin und Schriftstellerin hat sich Gertrud Fussenegger intensiv mit der Vergangenheit befasst; im Roman "Das Haus der dunklen Krüge" verarbeitete sie Erinnerungen an ihre böhmische Heimat. Ihr Werk ist vom Katholizismus geprägt - und doch war sie glühende Nationalsozialistin.

Die Erinnerung an Begegnungen mit einer charmanten Persönlichkeit und ihrem oft auch fragwürdigen Werk zwingt zu Reflexionen über das katholische Milieu, die Rolle der Literatur und die Abgründe der Erinnerung.

"Ich bin inzwischen 95 geworden, schwerhörig und rasch ermüdet, aber, wie Sie sehen, immer noch bereit, in der einen oder anderen Weise das Wort zu ergreifen." Dieser Satz steht am Schluss eines Briefes, den mir Gertrud Fussenegger im Oktober 2007 ganz überraschend schrieb. Sie wollte der Zeitung, bei der ich damals arbeitete, die Rezension des historischen Werkes "Schöpfung und Mensch im Mittelalter" anbieten. Aber das Thema war für eine Zeitung zu speziell, und so fand sich kein Platz. Also versuchte ich es bei der Zeitschrift "Quart", als deren eifrige Leserin sich Gertrud Fussenegger im Brief deklariert hatte. Doch dorthin passte der Text erst recht nicht. Während ich überlegte, was ich noch tun könnte, machte ich einen Fehler: Ich antwortete Gertrud Fussenegger nicht, denn ich wollte warten, bis ich eine gute Nachricht für sie hätte. So lag der Brief lange auf meinem Schreibtisch - gelegentlich vergessen, aber immer wieder als Mahnung auftauchend.

Und auf einmal erreichte mich im März 2009 die Nachricht: Gertrud Fussenegger ist tot. Für mich war es ein Schock - eineinhalb Jahre waren seit jenem Brief vergangen, und jetzt hatte ich keine Gelegenheit mehr, das Versäumnis gut zu machen. Immer noch bohrt in mir die Frage: Wie muss sich Gertrud Fussenegger gefühlt haben, dass nicht nur ihr kleiner Text nie erscheinen ist, sondern sie auf ihren Brief nicht einmal eine Antwort bekommen hat. Dass ich mehrere Versuche unternommen habe, dass ich ihr ja immer schreiben wollte, aber nicht wusste, was und daher noch zuwarten wollte - das alles zählt jetzt nicht mehr. Wenn jemand tot ist, kann man nichts mehr gutmachen. Was man schuldig geblieben ist, bleibt man schuldig.

Noch immer bin ich mit Briefen und Mails ständig im Rückstand, und bestimmt habe ich Menschen damit gekränkt. Aber die viele Korrespondenz, die mein Beruf mit sich bringt, und wohl auch meine persönliche Veranlagung - es gelingt mir nicht besser. Doch die Erinnerung an Gertrud Fussenegger mahnt mich immer wieder, anderen nicht schuldig zu bleiben, was ich ihr schuldig geblieben bin. Und sie lässt mich vor allem nicht vergessen, wie begrenzt und kostbar die Lebenszeit eines alten Menschen ist.

Service

Gertrud Fussenegger, "Das Haus der dunklen Krüge", Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 120512 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:45 min

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