Im Gespräch

In memoriam Margarete Mitscherlich.
"Ich halte es für eine Zumutung, dass Menschen nicht nur alt werden, sondern auch noch sterben müssen." Michael Kerbler spricht mit Margarete Mitscherlich, Psychoanalytikerin (Erstausstrahlung am 4. November 2010)

Vor uns auf dem Tisch im Wohnzimmer lag ihr Buch "Die Radikalität des Alters". Die Gesprächsaufnahme war längst abgeschlossen. Mir Vis-a-Vis saß eine fröhliche, agile Margarete Mitscherlich, die über ihre Einschätzung der Männer sprach und meinte, sie kenne keine Frau, die ein "Weichei" zum Mann haben wolle. Und dabei lachte. Kein Wort der Verbitterung wegen ihrer Schwerhörigkeit oder wegen der Notwendigkeit, eine Gehhilfe verwenden zu müssen kam über ihre Lippen. Ihren Rollator nannte sie nur "eine peinliche Karre". Und selbst in dem Satz "Ich halte es für eine Zumutung, dass Menschen nicht nur alt werden, sondern auch noch sterben müssen", schwang ein wenig Ironie mit. Am Leben interessiert war sie bis zuletzt. Am Dienstag ist Margarete Mitscherlich in einer Klinik in Frankfurt verstorben.

Sie war die Grande Dame der deutschen Psychoanalyse, die sich in ihren letzten Lebensjahren noch einmal mit großer Entschiedenheit den zentralen Fragen ihres Lebens zuwandte: dem Vergessen und Verdrängen und der Unfähigkeit der Deutschen zu trauern; der Emanzipation im weitesten Sinne, also der Befreiung von Denkeinschränkungen, Vorurteilen, Ideologien, aber auch im engeren Sinne der Emanzipation der Frau und ihrer Stellung in der Gesellschaft; den Geschlechterrollen, männlichen und weiblichen Werten. Zugleich reflektiert Margarete Mitscherlich das Älter- und Altwerden und beschreibt mit großer Offenheit, wie es ihre Sicht auf die Dinge prägte. In einem sehr persönlichen Stück beschreibt sie schließlich mit dem geschulten Blick der Psychoanalytikerin ihr Leben und Lebenswerk. Das Buch "Die Radikalität des Alters" kann als bewegendes Zeugnis lebendiger Zeitgeschichte gelesen werden. "Bin ich eine starrsinnige alte Frau? Bin ich furchtlos? Gewiss nicht, auch wenn mich vieles, was mir früher Angst machte, kalt lässt. Es ist alles nicht mehr so wichtig, ich selber schon gar nicht. Obwohl: Stimmt das?", notiert Margarete Mitscherlich darin. Die Psychoanalytikerin weicht den unangenehmen Fragen nicht aus: den Fragen nach dem - richtigen - Glauben, nach der Endlichkeit des Menschen und seiner Gebrechlichkeit im Alter. Aber sie sie drängt auch darauf, die positiven Seiten des Alters zu sehen: etwa die Lust am Denken.

Margarete Mitscherlich-Nielsen, geboren am 17. Juli 1917 in Dänemark, ist Psychoanalytikerin, Medizinerin und Autorin zahlreicher Bücher. Im Jahr 1947 traf sie in der Schweiz Alexander Mitscherlich, den sie 1955 heiratete. Mit ihm bemühte sie sich nach dem Krieg um die Wiederbelebung der Psychoanalyse in Deutschland. 1960 war sie Mitbegründerin des Sigmund-Freud- Instituts in Frankfurt, wo sie fortan vorrangig arbeitete, und fungierte viele Jahre als Herausgeberin der Zeitschrift "Psyche". Gemeinsam mit ihrem Mann veröffentlichte Margarete Mitscherlich 1967 das bahnbrechende Buch "Die Unfähigkeit zu trauern".

Service

Margarete Mitscherlich-Nielsen, "Die Radikalität des Alters: Einsichten einer Psychoanalytikerin", S. Fischer - Verlag, Frankfurt (ISBN-10: 3100491165 bzw. ISBN-13: 978-3100491169)

Alexander und Margarete Mitscherlich, "Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens", Piper Taschenbuch (ISBN-10: 3492201687 bzw. ISBN-13: 978-3492201681)

Margarete Mitscherlich,"Die friedfertige Frau: Eine psychoanalytische Untersuchung zur Aggression der Geschlechter", Taschenbuch, Fischer-Verlag, Frankfurt (ISBN-10: 3596247020 bzw. ISBN-13: 978-3596247028)

Margarete Mitscherlich, "Über die Mühsal der Emanzipation", Fischer Taschenbuchverlag (ISBN-10: 3100491114 bzw. ISBN-13: 978-3100491114)

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