Gedanken für den Tag

Von Cornelius Hell. "Manche kommen aus dem Staunen nicht heraus, manche nie hinein" - Zum 80. Geburtstag der Schriftstellerin Elfriede Gerstl. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Elfriede Gerstl, die als Kind mit ihrer Mutter vor den Nazis untertauchte und sich "tot oder schon deportiert stellte", hat im Kohlenkeller zu lesen begonnen, wenn die Sonne selten genug durch den kleinen Lichtspalt der Verdunkelung drang und die Nazis nicht mit Bajonetten nach ihr stocherten.

heimat im stammbeisl
heimat im landhäusl
heimat in einem mann
heimat in einer frau
heimat ist schutz und last
jeder fund
von verlust bedroht
heimat kann man nicht buchen
nur suchen

So lautet das Gedicht "heimat" aus Elfriede Gerstls Band "lebenszeichen". Kein Zweifel: Über weite Strecken macht sich Elfriede Gerstl über das Wort "Heimat" lustig, und die Verse unterstützen dabei, wie so oft bei ihr, die Ironie. Was ich an dieser Ironie so mag: dass sie nie simpel und einseitig ist. Elfriede Gerstl idealisiert auch die Heimatlosigkeit nicht - "heimat ist schutz und last" heißt es kurz und bündig; und damit ist auch klar, was es kostet, Heimat abzulehnen: Man begibt sich eines Schutzes.

zu einer gruppe gehören
ist halt stärkend und angstbindend
ich pflege lieber meine selbstgestrickten
ideen und ängste

heißen vier Zeilen in Gerstls Gedicht "patriotismus und tradition", und auch hier blitzt kein billiger Heroismus auf, der sich nur der eigenen Ideen rühmt - zur Ablehnung einer Gruppenzugehörigkeit gehören auch die eigenen Ängste. So ist mir Elfriede Gerstl besonders nahe - als hellsichtige Einzelgängerin.

Elfriede Gerstl hatte als Kind und als Jugendliche wenig Gelegenheit, eine Heimat, ein Zuhause zu finden. Sie musste sich mit ihrer Mutter vor den Nazis verstecken. Und ein Versteck ist Schutz, aber kein Zuhause. Aus dieser Erfahrung hatte sie auch einen kritischen Blick auf die Illusionen, die man sich schnell über sein Zu-Hause-Sein macht. Besonders nahe ist mir ein Gedicht, in dem Elfriede Gerstl die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks "bei sich sein" nutzt - das bedeutet sowohl bei sich selbst sein als auch bei klarem Verstand sein. Das Gedicht besteht aus lauter Fragen:

wer ist denn schon bei sich
wer ist denn schon zu hause
wer ist denn schon zu hause bei sich
wer ist denn schon zu hause
wenn er bei sich ist
wer ist denn schon bei sich
wenn er zu hause ist
wer ist denn schon bei sich
wenn er zuhause bei sich ist
wer denn

Service

Buch, Elfriede Gerstl, "Neue Wiener Mischung. Gedichte und anderes", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Mein papierener Garten. Gedichte und Denkkrümel", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Lebenszeichen. Gedichte, Träume, Denkkrümel", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Mittellange Minis. Werke Band 1", herausgegeben und mit einem Nachwort von Christa Gürtler und Helga Mitterbauer, Literaturverlag Droschl
Buch, Konstanze Fliedl, Christa Gürtler (Hg.), "Elfriede Gerstl", Literaturverlag Droschl
Buch, Christa Gürtler, Martin Wedl (Hg.), "Elfriede Gerstl. wer ist denn schon zu hause bei sich", Paul Zsolnay Verlag

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 120614 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

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