Gedanken für den Tag

Von Veronika Zoidl. "Das Surreale und ich". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Das Surreale, das Außer- oder Übernatürliche, hat die 20-jährige Schriftstellerin Veronika Zoidl von Kindheit an fasziniert: seien es Nonsensgedichte, die fantastische Welt der Alice im Wunderland, in der alles möglich scheint, oder das einspruchslose Hinnehmen des Surrealen in Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung".

Der Einbruch des Surrealen in den Alltag bricht die Welt des Vertrauten, des Logischen und des Selbstverständlichen auf und verweist auf etwas darüber Hinausgehendes, Unfassbares und Transzendentes.

Dunkel war's,
der Mond schien helle,
Als ein Wagen blitzeschnelle
Langsam um die Ecke fuhr;
Drinnen saßen stehend Leute,
Stumm in ein Gespräch vertieft.
Als ein totgeschoss'ner Hase
Auf der Wiese Schlittschuh lief

Und ein blondgelockter Jüngling
Mit kohlrabenschwarzem Haar
Saß auf einer grünen Bank,
Die rot angestrichen war.

Als Kind begeisterte mich dieses Gedicht, das sich von Zeile zu Zeile immer weiter in Widersprüche verstrickt. So springt es von einer Tatsache zur nächsten und revidiert die vorangegangene. Das Gefühl, das nach dem Lesen dieses Gedichtes zurückbleibt, ist ebenso widersprüchlich wie sein Inhalt. Heiterkeit auf der einen, Verwirrung und Unruhe auf der anderen Seite, weil die bildliche Vorstellung hier auf stand-by geschaltet werden muss. Sitzende Leute, die stehen, bleiben vor unseren Augen genauso unscharf wie ein langsam fahrender blitzschneller Wagen. Nein, man darf nicht den Fehler machen, die Worte in Bilder zu zwingen.

Dieses Gedicht ist natürlich kein Gedicht des Surrealismus; und doch ist das Faszinierende für mich das Surreale, das Außer- oder Übernatürliche, welches im Gedicht als vollkommen logisch, banal, alltäglich erscheint. Das Surreale ist eines jener raren Werkzeuge, welches ohne Einschränkungen unter allen Bedingungen arbeitet, wenn es gilt, das Unmögliche auf Papier zu bringen. Stift und Tastatur müssen keinen logischen Regeln folgen, wenn die Fantasie das Drehbuch schreibt. Mit Worten kann man Welten kreieren, Experimente, Gedankenspiele anstellen, fragen, was sein könnte, wenn. So begegnet mir das Surreale auch immer wieder in meinen Texten.

Als Kind begeisterte mich das Gedicht rund um dunkel-helle Nächte und stumme Laute als scheinbar sinnloser Text. Der Sinn jedes Satzes schien mit dem darauffolgenden Satz ausgelöscht worden zu sein. Heute ist die Suche des Sinnes für mich selbst der Sinn. Ein Sinn, der irgendwo über der Wirklichkeit liegt, und den man im Geiste suchen kann, während man sich dort auf einer roten Bank wiederfindet, die grün angestrichen ist.

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Titel: GFT 120625 Gedanken für den Tag / Veronika Zoidl
Länge: 03:47 min

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