Gedanken für den Tag

Von Carla Amina Baghajati. "Poetisches zum Ramadan". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Der Fastenmonat Ramadan ist über seine religiöse Bedeutung hinaus tief in den Kulturen muslimischer Gesellschaften verwurzelt. So hat der Ramadan als Motiv auch in die Literatur Eingang gefunden. In Prosawerken liefert er häufig einen Hintergrund für menschliche Konflikte, der Widersprüche zwischen ethischem Anspruch und gelebter Wirklichkeit noch schärfer in Szene setzt, gerade darum aber mit manchmal unbequemen Erkenntnissen konfrontiert. In der Poesie zeigt sich eine starke mystische Ausrichtung. Werte wie soziale Gerechtigkeit, Spiritualität, Geduld, Freiheit, Versöhnung und Dialog können über den Ramadan und seine Ideale thematisiert werden.

Die in dieser Woche von Carla Amina Baghajati ausgewählten und präsentierten Texte rücken jeweils einen der genannten Werte ins Zentrum. Von Yunus Emre bis zu Assia Djebar und Orhan Parmuk spannt sich der literarische Bogen und öffnet den Blick auf muslimische Denkens- und Lebensweise zum Ramadan.

Der 1977 geborene bosnische Autor Muharem Bazdulj gehört zu den führenden Schriftstellern seiner Generation und erhielt für seine Werke, die in mehreren Sprachen erschienen, zahlreiche Preise. Wenn er vom Ramadan im Sarajewo des Jahres 2011 erzählt, klingt vor allem die jüngste blutige Geschichte nach - aber auch Hoffnung. Er schreibt:
In kaum einer anderen europäischen Stadt leben so viele Menschen, bei denen ein Kanonenschuss derart heftige Assoziationen an Blut, Tod und Schrecken auslöst wie in Sarajevo. Dennoch, der allabendliche Kanonenschuss im August ist anders, geht es doch um die Ramadan-Kanone, die den Iftar, das Fastenbrechen, signalisiert.

Aus der Perspektive zahlreicher Gläubiger besteht Toleranz darin, die Erwartungshaltung zu haben, dass Atheisten die Überzeugungen der Gläubigen notwendigerweise respektieren müssten, während sie, die Gläubigen, frei sein sollten, Atheisten zu kritisieren und zu beleidigen, weil atheistische Überzeugungen a priori weniger wert seien. Es gab eine Zeit in Sarajevo, als religiöse Einrichtungen einen so starken Einfluss auf die Politik ausübten, dass eine solche Sichtweise häufig als eine naturgemäße und einzig mögliche präsentiert wurde.
Heute ist das nicht mehr so, und an manchen Abenden scheint es, als wäre Sarajevo wirklich eine tolerante Stadt. Also nicht eine Toleranz der Koexistenz unterschiedlicher Glaubensrichtungen, sondern eine solche Toleranz, die es möglich macht, dass mitten im Ramadan, buchstäblich im Schatten der Gazi-Husrev-Beg-Moschee, in einer engen Gasse alte Männer mit religiöser Kopfbedeckung und Teenager mit Bierflaschen in der Hand aneinander vorbeigehen. Die echte Toleranz bedingt auch, dass auf der Ferhadije-Promenade verschleierte Frauen einerseits und Mädchen mit sonnengebräunten Beinen in Mini-Röcken und Shorts, mit tief ausgeschnittenen Dekolletés andererseits nebeneinander hergehen.

Wenn der Kanonenschuss ertönt, erheben die Menschen den Blick gen Himmel, ohne Angst, dafür mit einer freudigen Neugierde, als würden sie wissen, dass ihnen nichts passieren kann - oder nur Gutes (Muharem Bazdulj in "Der Standard - Literatur zu Gast" vom 29.8.2011)

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Titel: GFT 120720 Gedanken für den Tag / Carla Amina Baghajati
Länge: 03:49 min

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