Da capo: Im Gespräch

25 Jahre "Im Gespräch": "Wer schweigt, genießt nicht. Guter Sex braucht Aussprache." Michael Kerbler spricht mit Elia Bragagna, Sexualtherapeutin (Erstaufführung: 04.02.2010)

Zeitdruck, Stress und Arbeitsüberlastung sind drei wesentliche Ursachen für Störungen eines erfüllten Sexuallebens. Und auch die Übersexualisierung der Gesellschaft selbst und damit zusammenhängende unrealistische Erwartungshaltungen stellen für viele Menschen eine zusätzliche Belastung dar, die nicht selten zu Libidoverlust und erektiler Dysfunktion, also zu Erektionsstörungen, führt. Fehlinformationen in den Medien suggerieren Frauen wie Männern Normen sexueller Attraktivität, die eher zu Sexualstörungen führen als zu einer sinnlichen Sexualität beizutragen. Eine der Folgen: junge Frauen klagen heute oft über Sexualstörungen, die man früher eher bei Frauen ab den Wechseljahren erwartet hätte. Jede dritte Frau reagiert lustlos, jede fünfte beklagt Erregungsstörungen oder leidet an schmerzhaftem Geschlechtsverkehr.
Männer setzen häufig sexuelle Attraktivität mit angeblich erwarteter Erfüllung von Leistungsvorgaben gleich; das oberste Gebot: der Körper hat zu funktionieren. Kein Wunder, dass zum Beispiel jeder fünfte junge Mann mit Versagensängsten, jeder siebente mit Lustlosigkeit und jeder 15. mit Erektionsstörungen reagiert. Fatal ist, wenn diese Art des Leistungsstress dazu führt, dass junge Männer präventiv zu medizinischen Potenzmitteln greifen.
Jüngste Erhebungen zeigen, dass rund 30 Prozent aller Österreicher und Österreicherinnen unter sexuellen Funktionsstörungen leiden.
Liegt die Ursache dieser Entwicklung, wie Uni-Prof. Franz X. Eder vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien meint, darin, dass Sexualität heute zum Konsumprodukt verkommen ist? Eder wörtlich: "So wie es momentan anscheinend darum geht, ultimative Konsumchancen zu verwirklichen, so geht es offenbar vielen auch im Sexuellen darum, ultimative Fitness zu erreichen: durch tantrischen Sex, durch Virtualisierung, durch Prothesen und Pillen etc. Auf all diese Arten wird uns vorgegaukelt, es gäbe stets einen noch besseren Sex, und das eine Erlebnis wäre nur die Vorstufe zum nächsten".

Geht also durch die Sexualisierung fast aller Lebensbereiche die Begierde verloren? Faktum scheint: "Je größer die Sexualisierung, desto schwächer die Sexualität." Aber was bleibt dann von der sexuellen Befreiung? Der Ver-Lust?
Die Sexualtherapeutin Dr. Elia Bragagna setzt auf das Gespräch zwischen den Partnern als wichtige Voraussetzung für erfüllte Sexualität. "Wichtig ist, den eigenen Körper zu kennen, stolz auf ihn zu sein und die Dinge ohne Scham auszusprechen. Würdevolle Sexualität, bei der ich mich nicht schäme, braucht Aussprache."

Service

Franz X. Eder, "Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität", beck'sche Reihe, Verlag C.H. Beck, München (ISBN 978 3 406 57738 3)

Ariadne von Schirach, "Der Tanz um die Lust", Taschenbuch, Goldmann Verlag, München(ISBN 9783442155026)

Allan und Barbara Pease, "Warum Männer immer Sex wollen und Frauen von Liebe träumen", Ullstein, Berlin (ISBN 9783550086847)

Hellmuth Karasek, "Ihr tausendfaches Weh und Ach. Was Männer von Frauen wollen", Hoffmann und Campe, Hamburg (ISBN 978-3-455-40193-6)

Elisabeth Badinter, "XY - Die Identität des Mannes", aus dem Französischen von Inge Leipold, deutsche Ausgabe im R. Piper Verlag, München

Hans-Joachim Maaz, "Die neue Lustschule. Sexualität und Beziehungskultur", Verlag C.H. Beck oHG, München 2009 (ISBN 978 3 406 59115 0)

Sendereihe