Gedanken für den Tag

"Der jüdische Jesus" - Joseph Lorenz liest Texte von Pinchas Lapide. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Im biblischen Buch Levitikus steht geschrieben: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!"
Ja, aber kann denn Liebe überhaupt befohlen werden? Keineswegs! Aber lesen wir doch genau! Hier steht ja gar kein Imperativ, sondern die Zukunftsform: "Du wirst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst."

Wann wird das geschehen? Sobald Gott "seine Tora in unsere Herzen geben und in unseren Sinn schreiben wird", sobald er uns "das steinerne Herz wegnehmen und uns ein fleischenes Herz geben wird", (wie es bei den Propheten Jeremia und Ezechiel heißt.) Dann wird es keiner Gebote und Befehle mehr bedürfen, um die Nächstenliebe als überschäumende Gottesliebe zur Selbstverständlichkeit zu machen. Nicht äußerer Zwang wird dann zur Liebe treiben, sondern innerer Drang.

Klar ist, dass die bevorstehende Herrlichkeit als Zukunft Gottes eine radikale Änderung der Gegenwart hervorrufen soll, aber sie steht noch immer aus. Jetzt sind die Armen noch immer recht arm; die Verfolgten werden weiterhin verleumdet; und die Tränen der Trauernden hat Gott noch nicht abgewischt.

Diese harte Wirklichkeit wird weder übertüncht, noch totgeschwiegen, wohl aber relativiert angesichts der erhofften Erlösung, die für den Gläubigen eine morgige Wirklichkeit ist.
Im brennenden Bewusstsein der Mangelhaftigkeit aller Weltlichkeit schaut Jesus zurück zum Sinai der Gesetzgebung, um dann den Blick nach vorne zu richten - hin zur Zukunftsvision der Propheten Israels, in der Gottes Liebe und Gerechtigkeit die Menschen befrieden wird.
Im gespannten Bogen dieser Doppelschau schrumpft für ihn das Heute zum Nadelöhr, durch das der Faden der Erinnerung unermüdlich den Stoff der Zukunft weiterwebt.

Keine Verschiebung aufs Jenseits, keine Schrumpfung auf die Innerlichkeit des Seelenlebens wird hier begangen, denn Jesus, wie den Propheten vor ihm, geht es um das Ganze. Er meint wirklich die Armen, die das Himmelreich erleben sollen; wirklicher Friede soll einkehren zwischen Menschen, Klassen und Völkern; Gewalt soll wirklich der Liebe weichen, weil alle im Herzen lernen werden, was dem eigenen und dem fremden Wohl am besten dient; und Glück soll herrschen in Eintracht und Geschwisterlichkeit auf dieser Erde, die Gott "sehr gut" geheißen hat. Das ist das Senfkorn der Hoffnung auf eine heilbare Welt, die Jesus hier in den Mutterboden biblischer Verheißungen senkt.

Service

Buch, Pinchas Lapide, "Auferstehung. Ein jüdisches Glaubenserlebnis", LIT-Verlag
Buch, Pinchas Lapide, "Die Bergpredigt. Utopie oder Programm?", LIT-Verlag

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Titel: GFT 121022 Gedanken für den Tag / Joseph Lorenz
Länge: 03:49 min

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