Gedanken für den Tag

Von Anita Natmeßnig. "Was zählt, ist dieser Augenblick". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Heute vor 100 Jahren wurde der berühmte Schriftsteller Jean Amery geboren. Ein Anlass für mich, am Reformationstag der evangelisch-lutherischen Kirche des gebürtigen Österreichers zu gedenken. Denn er hat für mich so manches reformatorische Potential, wenngleich er kein Protestant im konfessionellen Sinne war.

Geboren 1912, wuchs er als Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter im Salzkammergut auf. Sein Name damals: Hans Chaim Mayer. 1938 emigrierte er nach Belgien, wurde als so genannter "feindlicher Ausländer" verhaftet, konnte fliehen, kehrte nach Belgien zurück und wandte sich dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu. 1943 wurde er von der Gestapo verhaftet, von der SS gefoltert und in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert, dann nach Buchenwald und schließlich nach Bergen-Belsen.

Jean Amery lebte und arbeitete ab 1945 in Brüssel als Kulturjournalist und Schriftsteller. Mir ist er über sein Buch Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod bekannt. Er bezeichnet den so genannten Selbstmord als Freitod, als "ein Privileg des Humanen", und verübte ihn 1978 in Salzburg. Für die 1970er Jahre war es ein bahnbrechendes Plädoyer, den Suizid vom Stigma der Krankheit und von kirchlicher Verurteilung als moralisch verwerflich zu befreien.

Aktuelle Untersuchungen belegen, dass die Suizidrate sinkt, sobald Menschen einen Zugang zum psychosozialen Unterstützungssystem finden. Denn professionelle Hilfe kann neue Perspektiven eröffnen, Hoffnung und Mut geben. Im Hospiz zum Beispiel habe ich erlebt, dass der Wunsch nach Sterbehilfe verschwand, sobald die Schmerzen gelindert wurden, seien es körperliche oder seelische. Insofern könnte der Tod von Jean Amery als ein Aufruf verstanden werden, Mit-Menschen das Umfeld zu bieten, das sie brauchen, damit sie ihr Leben bis zuletzt auch leben wollen und können. Oder wie Martin Luther es formuliert: Einen traurigen, verzagten Menschen fröhlich zu machen, ist mehr, als ein Königreich zu erobern.

Service

Buch, Anita Natmeßnig, "Was zählt, ist dieser Augenblick. Leben lernen im Hospiz", Herder Verlag
Buch, Jean Amery, "Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod", Verlag Klett-Cotta

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Titel: GFT 121031 Gedanken für den Tag / Anita Natmeßnig
Länge: 03:50 min

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