Gedanken für den Tag

2. November 2012, 06:56

Robert Linhart war erst 53 Jahre alt, als er im Hospiz seinem Krebsleiden erlag. Drei Monate vor seinem Tod habe ich ihn dort kennengelernt und viele Interviews mit ihm geführt. Ich war tief berührt von seiner Lebensgeschichte und von seinem Sterben. So viele Träume, so viele Wünsche - und keinen konnte er sich mehr erfüllen. Er wollte noch einmal ans Meer reisen, eine Kreuzfahrt machen - wir gingen sogar gemeinsam ins Reisebüro, aber es war bereits zu spät. Zu schnell hatte sich sein Zustand verschlechtert. Binnen weniger Wochen war er zu schwach zum Gehen. Statt des erhofften Umzugs von zu Hause in ein Pensionistenheim erfolgte der Transfer ins Hospiz. Fünf Wochen später war er tot.

Ich habe aus der Begegnung mit Robert Linhart Folgendes für mein Leben gelernt: Nichts aufschieben auf den Sankt Nimmerleinstag, sondern mutig meine Herzenswünsche zu verwirklichen. Meine Träume ernst nehmen und sie realisieren - jetzt. Aber ich habe auch erkannt: Für Robert Linhart war es seine Weise zu leben und zu sterben. Es war sein Tempo, sein Rhythmus und seine Form: sich entspannen, geschehen lassen, zulassen. Ungewohnt für mich. Pointiert formuliert waren wir wie Mond und Sonne, wie Yin und Yang. Er lebte fast asiatisch die Seite des Sich-Ergebens, der Hingabe und nicht wie im Westen üblich die Seite des Tuns oder des Kampfes.

Ich sehe noch heute sein Antlitz auf dem Totenbett vor mir. Es erinnerte mich an Christusdarstellungen auf griechischen Ikonen: entspannt und gelöst. Erlöst. Er hatte auf seine Weise den Frieden gefunden. In einer auf Effizienz, Leistung und Profit orientierten Zeit kann Herr Linhart zum Vorbild werden, statt eilig etwas zu tun, sich im Nicht-Tun zu üben. Von ihm kann ich lernen: Sein statt Tun. Hingabe. Einfach sein.

Service

Buch, Anita Natmeßnig, "Was zählt, ist dieser Augenblick. Leben lernen im Hospiz", Herder Verlag

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