Gedanken für den Tag

Von Cornelius Hell. "Augen offen halten und warten". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Heute feiert die katholische Kirche das Fest der heiligen Barbara. Wer das nicht weiß, kennt zumindest den Brauch, der mit diesem Fest verbunden ist: Einen Kirschzweig einwässern, damit er zu Weihnachten blüht. Von allen Adventbräuchen ist mir der mit dem Barbarazweig der liebste, weil ich ihn nur ein einziges Mal praktizieren konnte. Im Bergdorf meiner Kindheit haben wir nicht gewusst, wie wir einen Kirschzweig aus dem Schnee buddeln sollten, und jetzt in Wien gibt es am 4. Dezember zwar kaum einmal Schnee, aber ich weiß nicht, wo ich einen Kirschbaum finde. Doch das eine Mal habe ich dem Aufblühen des Barbarazweiges wirklich entgegengefiebert - mehr als der letzten Kerze auf dem Adventkranz oder dem letzten Türchen des Adventkalenders.

Draußen Kälte und Schnee, und im eigenen Heim ein Zweig, der bald blüht - das ist mein intensivstes Advent-Erlebnis. Und doch weiß ich, dass der blühende Zweig auch einfach nur eine leere Behübschung, ein falscher Schein sein kann. Oder eine Versuchung, sich mit der Welt, wie immer sie sein mag, abzufinden, solange es nur zu Hause lauschig und schön ist.

Das "Lied des einfachen Menschen" des Dichters Jura Soyfer ist eine gute Medizin gegen diese Illusion. Dort heißt es:
Längst ist alle Menschlichkeit zertreten,
Wahren wir doch nicht den leeren Schein!
Wir, in unsern tief entmenschten Städten,
Sollen uns noch Menschen nennen? Nein!

Wir sind der Straßenstaub der großen Stadt,
Wir sind die Nummer im Katasterblatt,
Wir sind die Schlange vor dem Stempelamt
Und unsre eignen Schatten allesamt.

In Jura Soyfers "Lied des einfachen Menschen" lese ich nicht nur die sozialen und politischen Verhältnisse Mitte der 1930er Jahre; als sein eigener Schatten kann man auch in besseren und sehr heutigen Umständen leben. Doch wenn man das sieht und spürt, öffnen sich auch neue Wege. Manchmal kann ein Mensch aufblühen wie ein Kirschzweig im Winter. Wenn man nicht daran glaubt, hat das Fest der Menschwerdung jeden Sinn verloren.

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 121204 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:45 min

Komponist/Komponistin: Sabina Hank/geb.2.5.1976
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Jura Soyfer/1912 - 1939
Album: Abendlieder/Live at Oval
Titel: Wanderlied/Live
Ausführende: Sabina Hank /Gesang, Klavier
Ausführende: Willi Resetarits /Gesang, diatonische Harfe
Ausführende: Gerald Preinfalk /Altsaxophon, Baßklarinette
Ausführende: Georg Breinschmid /Kontrabaß
Länge: 02:00 min
Label: Universal CD 1777471

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