Gedanken für den Tag

Von Joseph Lorenz, Schauspieler. "Lichte Momente". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Für die Ö1-Sendereihe "Gedanken für den Tag" hat der Schauspieler Joseph Lorenz Texte rund um den Advent und das jüdische Lichterfest Chanukka, das in dieser Woche gefeiert wird, ausgewählt.


Die drei dunklen Könige
von Wolfgang Borchert

Er tappte durch die dunkle Vorstadt. Die Häuser standen abgebrochen gegen den Himmel. Dann fand er eine alte Planke. Das Holz roch mürbe und süß. Als er die Tür aufmachte, sahen ihm die blassblauen Augen seiner Frau entgegen. Ihr Atem hing weiß im Zimmer, so kalt war es. Der Mann legte das Holz in den kleinen Blechofen. Da glomm es auf und warf eine Handvoll Licht auf ein winziges rundes Gesicht und blieb einen Augenblick.

Das Gesicht war erst eine Stunde alt, aber es hatte schon alles, was dazugehört: Ohren, Nase, Mund und Augen. Er lebt, dachte die Mutter. Und das kleine Gesicht schlief.
Da sind noch Haferflocken, sagte der Mann. Ja, antwortete die Frau, das ist gut. Nun hat sie ihr Kind gekriegt und muss frieren, dachte er. Aber er hatte keinen, dem er dafür die Fäuste ins Gesicht schlagen konnte.

Dann waren welche an der Tür. Wir sahen das Licht, sagten sie, vom Fenster. Wir wollen uns zehn Minuten hinsetzen. Drei waren es. In drei alten Uniformen. Einer hatte einen Pappkarton, einer einen Sack. Und der Dritte hatte keine Hände. Erfroren, sagte er, und hielt die Stümpfe hoch. Sie drehten Zigaretten. Aber die Frau sagte: Nicht, das Kind. Da gingen sie vor die Tür, und ihre Zigaretten waren vier Punkte in der Nacht. Der eine hatte dicke, umwickelte Füße. Er nahm ein Stück Holz aus seinem Sack. Ein Esel, sagte er, ich habe sieben Monate daran geschnitzt. Für das Kind. Was ist mit den Füßen?, fragte der Mann. Wasser, sagte der Eselschnitzer, vom Hunger. Der dritte zitterte in seiner Uniform. Das sind nur die Nerven. Man hat eben zu viel Angst gehabt. Dann traten sie die Zigaretten aus und gingen wieder hinein und sahen auf das kleine schlafende Gesicht.

Die Frau fürchtete sich. Aber da stemmte das Kind seine Beine gegen ihre Brust und schrie so kräftig, dass die drei Dunklen zur Tür schlichen. Der Mann sah ihnen nach. Schöne Heilige sind das, brummte er und sah nach den Haferflocken. Aber er hatte kein Gesicht für seine Fäuste.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Arcangelo Corelli/1653 - 1713
Album: EIN WEIHNACHTSKONZERT
* Adagio - Allegro - Adagio - 2.Satz (00:03:49)
Titel: Concerto grosso fatto per la notte di Natale op.6 Nr.8 in g-moll
Leitung: Herbert von Karajan
Orchester: Berliner Philharmoniker
Länge: 02:00 min
Label: DG 4194132

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