Gedanken für den Tag

20. Dezember 2012, 06:56

Danken


Fräulein Scheuch lebte im Altersheim in Bad Aussee. Wenn sie am Fenster stand und mich auf dem Heimweg von der Schule sah, rief sie mich zu sich, schlurfte auf ihren gelb-braun karierten Filzpantoffeln mit heruntergetretenen Fersen zur Bassena, füllte Wasser in ihr Zahnputzglas, ließ von einem Stückchen Papier Zucker hineinrieseln und rührte lange mit dem Stiel ihrer Zahnbürste um. Dann saß ich auf dem einzigen Sessel in ihrem Zimmer, sie unter dem Schutzengelbild auf ihrem Bett. Fräulein Scheuch erzählte mir von früher, manchmal sogar lustige Geschichten von meiner toten Mutter, die sie als kleines Mädchen gekannt hatte. Wenn sie etwas fragte, konnte ich antworten. Nie sagte sie: Du schwindelst, oder gar: Du lügst. Ich konnte zuhören und reden und musste keine Angst haben. Ich wusste, dass sie sich freute, mich da zu haben, mich und niemand anderen.
Vor dem Glas grauste mir, aber ich trank das Zuckerwasser in winzigen Schlucken. Und ich hatte kein schlechtes Gewissen, obwohl ich wusste, dass sie sich den Zucker vom Frühstück abgespart hatte. Sobald das Glas leer war, sagte sie: "Jetzt musst du gehen." Ich rannte den ganzen Weg nach Hause. Von meinen Besuchen bei ihr erzählte ich niemandem.

Als wir nach Kriegsende nach Wien zurückfuhren, habe ich mich nicht einmal von ihr verabschiedet.

Ich muss elf gewesen sein, als ich sie wieder sah, in der Ordination meines Vaters, grau, zerbrechlich, in Filzpantoffeln. "Ich komm ja in keinen Schuh mit den geschwollenen Füßen", entschuldigte sie sich. Wir standen einander befangen gegenüber, ich war erleichtert, als mein Vater mich in die Apotheke schickte.

Ich möchte gern glauben, dass sie ahnte, was sie mir mit ihrem Zuckerwasser gegeben hat. Vielleicht ist Erinnern auch ein Geschenk...

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