Gedanken für den Tag

4. Juni 2013, 06:56

Gerhard Weißgrab ist Präsident der Österreichischen Buddhistischen Religionsgesellschaft:

Ein weltberühmter und mit vielen Wissenschaftspreisen ausgezeichneter Professor wanderte weit in die Berge, um einen berühmten Zen-Mönch zu besuchen. Er hatte von dessen großem Wissen und großer Weisheit gehört und wollte selbst der großen Weisheit etwas näher kommen.

Als er bei dem Mönch angekommen war, stellte er sich höflich vor, nannte alle seine akademischen Titel und bat um Belehrung.

"Möchten Sie Tee?" fragte der Mönch. "Ja, gerne", sagte der Professor.

Der alte Mönch schenkte Tee ein. Langsam wurde die Tasse voll, aber der Mönch schenkte weiter ein, der Tee floss über den Rand der Tasse, über die Untertasse auf den Tisch und dann auf den Boden.

"Genug!" rief der Professor. "Sehen Sie nicht, dass die Tasse schon voll ist? Es geht nichts mehr hinein."

"Diese Tasse" sagte der Mönch, "ist wie Sie selbst!"
"Genau wie diese Tasse sind auch Sie voll von Ihrem Wissen, Ihren Urteilen und Vorurteilen. Voll von Ihren Meinungen!"
"Um Neues zu lernen, müssen Sie erst Ihre Tasse leeren!"

Wie gut kann ich mich in dieser Geschichte selbst wiederfinden! Habe ich nicht auch auf fast alle Fragen schon die richtigen Antworten?

Und habe ich nicht auch die klare Überzeugung, dass es auf die Fragen, auf die ich die Antworten nicht habe, einfach keine Antworten geben kann - und daher aufgehört, weiter darüber nachzudenken?

Überzeugungen und Haltungen sind gleichzeitig die Grundlage für unser Handeln. Wenn wir alle gemeinsam immer mehr zur Auffassung kommen, dass sich vieles in eine falsche Richtung bewegt, dann sollten wir vielleicht mit leeren Tassen nach neuen Antworten suchen.

Oder, so frage ich mich, könnte es auch sein, dass wir bis jetzt einfach nur die falschen Fragen gestellt haben?

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