Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer: "Nichts Schön'res unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ... ". Gestaltung: Alexandra Mantler

Gestern glaubt ich
dem Gras
sein Grün
heute heumatt

Das Wort heumatt ist eine geniale Erfindung der Lyrikerin Rose Ausländer, das auch zum Titel ihres Gedichtes geworden ist. Wie schnell das geschnittene Gras matt und zu Heu wird - wo könnte sich klarer zeigen, wie schon hinter der Lebensfreude der Ernte die Vergänglichkeit aufblitzt. Marie von Ebner-Eschenbach spricht am Beginn ihres Gedichts "Sommermorgen" von einem Buchenwald, der "bebt in Daseinswonne", doch am Schluss steht die Einsicht in die Vergänglichkeit - und Marie von Ebner-Eschenbach hat dafür einen Satz gefunden, der mich nicht loslässt: "die Natur / Ist Schmerz in Schönheitshülle."

Der Blick auf die Schönheit macht ihre Vergänglichkeit noch klarer und härter bewusst. Dafür haben Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein besonders deutliches Sensorium. Friedrich Hebbel kann sich in seinem Gedicht "Sommerbild" der Erkenntnis nicht verschließen, dass der Sommer eindeutig zur zweiten Jahreshälfte gehört, dass der Zenit überschritten ist. Dem Anblick einer Rose folgt ein Satz, den ich ebenfalls nicht vergessen kann: "So weit im Leben, ist zu nah dem Tod!" Zumindest seit ich meinen fünfzigsten Geburtstag hinter mir habe, kann ich diesen Satz nicht mehr nur auf andere beziehen.

Ernst Jandl hat das sommerliche Wissen um die Vergänglichkeit ironisch auf den Punkt gebracht: Sein Gedicht "sommerlied" hat nur vier Zeilen:

wir sind die menschen auf den wiesen
bald sind wir menschen unter den wiesen
und werden wiesen, und werden wald
das wird ein heiterer landaufenthalt

Jandls "sommerlied" mag ich besonders, weil es die schmerzliche Erkenntnis des unvermeidlichen Endes ironisch bricht und die Bedeutung des traditionellen sommerlichen Landaufenthalts hintersinnig umpolt - er wird zum Eingehen in das Land, in die Erde. Und das ist mehr als ein "Aus und vorbei". Für meine Mutter war es, solange ich denken kann, ein Trost, dass sie eins werden wird mit ihrer geliebten Natur. Darum werde ich diese Woche, wo sie hundert Jahre alt geworden wäre, auf ihrem Grab eine Blumenwiese pflanzen.

Service

Buch, Sommergedichte, ausgewählt von Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell, Verlag Philipp Reclam jun.
Buch, Ingeborg Bachmann, Anrufung des Großen Bären, in: Ingeborg Bachmann, Werke, Hrsg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster, Erster Band: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen, R. Piper Verlag
Buch, Ernst Stadler, Sommer, aus: Der Aufbruch. Gedichte, Verlag Kurt Wolff
Buch, Gottfried Keller, Ich hab in kalten Wintertagen, aus: Gedichte, Band 1, Hrsg. v. Kai Kauffmann, Deutscher Klassiker Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Antonio Vivaldi
Titel: Konzert für Violoncello, Streicher und B.c. in h-moll RV 424
* Largo - 2.Satz (00:02:24)
Cellokonzert
Solist/Solistin: Heinrich Schiff /Violoncello
Orchester: Academy of St.Martin in the Fields
Leitung: Iona Brown
Ausführende: Ian Watson /Cembalo
Ausführende: Denis Vigay /Violoncello
Länge: 02:00 min
Label: Philips 4111262

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