Zwischenruf

von Gisela Ebmer (Wien). Von der Gleichheit der Chancen

Lukas sitzt in der 3. Reihe am Fenster, 2. Klasse Volksschule. Es ist halb zwölf Uhr am Vormittag. Er kann sich nicht konzentrieren, ist müde, er hat ein flaues Gefühl im Magen. Seit gestern Abend hat er nichts mehr zu essen bekommen. Die Mama ist vor ihm außer Haus gegangen, eine Nachbarin hat ihn mit in die Schule genommen. Niemand hat ihm ein Frühstück gemacht, ein Jausenbrot gerichtet oder ihm Geld mitgegeben, damit er sich in der Schule was zu essen kaufen kann. Er hat ganz einfach Hunger, das macht ihn müde und unkonzentriert. Der Lehrerin ist zwar aufgefallen, dass er sehr still ist und etwas bleich, aber sie ärgert sich auch über ihn. Wieder hat er keine Hausübung gebracht, hat nur die Hälfte der Hefte und Bücher mit. Und hundertmal hat sie ihm schon erklärt, dass man Vater mit V schreibt und nicht mit F. Er schreibt es mal so, mal so. Das Kind scheint einfach minder begabt zu sein.

Wir haben in Österreich ein Schulsystem, wo alle Kinder die gleichen Chancen haben. Alle müssen zumindest neun Jahre in die Schule gehen. Alle haben die Möglichkeit zu lernen, gute Noten zu haben, ein Gymnasium zu besuchen. Sie lernen in der Schule das, was sie zum Leben brauchen, haben mindestens zweimal pro Woche Sport, haben Musik-Unterricht, bildnerische Erziehung, werden also auch mit Kunst und Kultur vertraut. - Wieso nützt der kleine Lukas seine Chance nicht?

Der evangelische Theologe Ingo Baldermann hat das Bildnis der Justitia, der Gerechtigkeit, sehr treffend beschrieben: Sie steht da mit zwei Waagschalen um Gut und Böse abzuwägen, und ihre Augen sind verbunden. Damit kein Ansehen der Person ihren gerechten Spruch trüben kann. Objektive Kriterien sollen gelten. Für alle die gleichen Chancen. Es ist egal, ob Lukas aus armen oder reichen Verhältnissen kommt. Er hat die Chance zu lernen, in die Schule zu gehen, einen guten Beruf zu erlernen. Diese Chance soll er nützen.

Der Gott der Bibel trägt keine Augenbinde. Für ihn ist die konkrete Person das erste, was er anschaut. Er fragt nicht: Was hast du geleistet, bist du Österreicher, wie viel Geld hast du, bist du anständig, bist du fleißig, hast du deine Aufgaben gemacht? Welche Noten hast du? Gott fragt: Wie geht es dir? Was bewegt dich? Wovor hast du Angst? Was macht dich traurig? Was brauchst du? Wie kann ich dir helfen? Welchen Sinn und welches Ziel möchtest du in deinem Leben verfolgen? Wer gut versorgt ist, wer sich geborgen und geliebt fühlt, hat Kraft zu lernen und Chancen zu nützen.

Solange die Schere zwischen arm und reich in Österreich aber noch immer weiter auseinandergeht, solange die Grundbedürfnisse von Kindern nicht gestillt werden, ist Chancengleichheit ein leeres Wort.

Es ist gut, dass rechtzeitig vor Schulbeginn das Schülerbeihilfen-Gesetz geändert wurde: Für eine Bewilligung zählt nur mehr ein sehr niedriges Haushaltseinkommen und nicht mehr der Notendurchschnitt. Und es ist gut, dass die Diakonie hungrige Kinder in der Schule mit Lebensmitteln unterstützt. "Lernen mit leerem Bauch, das geht nicht", so nennt sich das aktuelle Projekt der evangelischen Stadtdiakonie Wien. Es ist ein Anfang, es sollte mehr sein, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Die Bildung wird auf allen Wahlplakaten groß geschrieben. Aber ich vermisse das offene Infragestellen der Verteilung des Reichtums in Österreich.

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