Gedanken für den Tag

Von Rainer Bucher, Pastoraltheologe. "Zeit der Ambivalenzen" - Über den Herbst. Gestaltung: Alexandra Mantler

Nachsommer

Der Herbst war mir immer, von klein auf, die unfassbarste Jahreszeit. Er faszinierte und verstörte mich. Seine Ambivalenzen haben mich gefesselt und begeistert, manchmal auch erschrocken.

Schon sein Anfang war merkwürdig: Fast unmerklich hatte der Sommer immer begonnen, nicht mehr Sommer zu sein, war in die helle, heiße Klarheit der Badetage langsam die abendliche Kühle gekrochen, hatte aber auch die Nachmittagssonne eine Fülle und Farbe gewonnen, die der Sommer noch nicht kannte.

Der Herbst schien alles aufzufächern: die Temperaturen, die Gefühle, auch den Kontrast von Muse und Arbeitspflicht. Letzteres ganz besonders: Nach dem Glück der Ferien spürte ich die Last des Leistenmüssens scharf.

Der Herbst ist Nachsommer und er ist von diesem "Nach" bestimmt wie wenige Jahreszeiten. Mir zumindest, katholisch-südlich gestimmt, schien der Sommer und scheint er bis heute, als die natürliche, die eigentlich normale Jahreszeit, so, wie es immer sein sollte, aber leider in unseren Breiten halt nur ab und zu und fast immer nur kurze Zeit ist.

Der Herbst beginnt als Sommer im Abstieg und er ist daher erfüllt vom Hauch der decadence. Der Herbst, das ist die Erfahrung des Abstiegs von einem so schnell nicht mehr erreichten Plateau, eine Zeit der Differenzerfahrung, darin dem Frühling verwandt. Differenzen aber beeindrucken stärker als Kontinuität.

Solche Zeiten schillern und flirren, verändern und wenn diese Veränderungen auch noch Rückzug signalisieren, dann berühren sie unmittelbar das Gemüt. Der herbstliche Nachsommer kennt Melancholie und Wärme, Geborgenheit und die Ahnung ihrer Gefährdung.

"Herr der Sommer war sehr groß". Wer immer dieser Herr ist, an den Rilke sich wendet: Der Herbst fasziniert und erschreckt durch die Erfahrung: Wenn etwas endet, wird es manchmal am stärksten.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Henry Purcell/1659 - 1695
Gesamttitel: Suite aus Bühnenmusiken
Titel: The Gordian Knot Untied Z 597 - Musik zu dem Theaterstück / daraus : Chaconne
Orchester: Taverner Players
Leitung: Andrew Parrott
Länge: 02:00 min
Label: EMI 7698532

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