Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Ich fahr durch Schnee und weiße Nacht". Gestaltung: Alexandra Mantler

Die Welt ist aus dem Stoff,
der Betrachtung verlangt

dieser Satz von Ilse Aichinger geht mir seit Jahrzehnten nicht aus dem Kopf; er ist der Beginn ihres Gedichtes "Winterantwort":

Die Welt ist aus dem Stoff,
der Betrachtung verlangt:
kein Auge mehr,
um die weißen Wiesen zu sehen,
keine Ohren, um im Geäst
das Schwirren der Vögel zu hören.

Mit den weißen Winterwiesen und den Vögeln hat für mich das Staunen begonnen, das Schauen und Horchen; aber auch die Vorsicht und das Alleinsein, denn ich musste lernen, nicht darüber zu sprechen, um nicht ausgelacht zu werden. So, ganz für mich allein, habe ich die winterliche Dorfwelt noch intensiver in mich aufgesogen. Und auch wenn meine schwerkranke Großmutter mir keine Märchen erzählen konnte, rumorten in mir die Fragen, mit denen Ilse Aichingers Gedicht "Winterantwort" fortsetzt:

Großmutter, wo sind deine Lippen hin,
um die Gräser zu schmecken,
und wer riecht uns den Himmel zu Ende,
wessen Wangen reiben sich heute
noch wund an den Mauern im Dorf?
Ist es nicht ein finsterer Wald,
in den wir gerieten?

Der finstere Wald, in dem sich die Märchenfiguren verirren - einmal konnte ich mit Ilse Aichinger darüber sprechen. "Unmöglich, sich Hänsel und Gretel in einem Laubwald vorzustellen", sagte sie. In meiner Kindheit im Salzburger Land konnte ich mir keinen anderen Wald vorstellen als den finsteren Nadelwald, und so arbeiteten die Märchen in mir.

"Ist es nicht ein finsterer Wald, in den wir gerieten", fragt Ilse Aichingers Gedicht. Seine Antwort ist nur auf den ersten Blick eindeutig:

Nein, Großmutter, er ist nicht finster,
ich weiß es, ich wohnte lang
bei den Kindern am Rande,
und es ist auch kein Wald.

Was ist es dann? Das ist die produktive Frage, mit der mich dieses Gedicht mir selbst überlässt. Es ist die helle, bis in den letzten Winkel beleuchtete Welt, ist meine erste Antwort. Vor einigen Jahren bin ich wieder allein durch eine Winternacht meines Dorfes gegangen. Ich konnte meinen Blick nicht mehr vom Himmel lösen. In den Jahrzehnten des Stadtlebens hatte ich vergessen, wie viele Sterne dort leuchten.

Service

Buch, Ilse Aichinger, "Verschenkter Rat", S. Fischer Verlag

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Antonio Vivaldi/1678 - 1741
Album: LIEBEN SIE KLASSIK ? / Vol.1
Titel: Largo - 2.Satz aus "Der Winter / L'inverno" - Concerto für Violine, Streicher und B.c. Nr.4 in f-moll op.8 RV 297
Orchester: English Chamber Orchestra
Leitung: Leonard Slatkin
Länge: 02:00 min
Label: RCA GD 61310

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