Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Ich fahr durch Schnee und weiße Nacht". Gestaltung: Alexandra Mantler

Auf der Suche
nach etwas Schönem wie Schnee
ging ich leer aus
bis es des Wegs zu schneien begann

Elisabeth Borchers drückt in ihrem kurzen Gedicht eine fundamentale Erfahrung aus: Wenn man den Schnee intensiv erwartet und herbeisehnt, dann kommt er nicht. Auch wenn Skipisten längst mit künstlichen Beschneiungsanlagen präpariert werden - das Schneien lässt sich nicht herstellen. Das Wetter ist so etwas wie eine letzte Bastion der Natur in unserem täglichen Leben; das Wetter bestimmt, wie man sich anzieht und seinen Tag beginnt, aber wir können nicht darüber verfügen - jeder Tag kann eine Überraschung bereithalten. Das Gedicht von Elisabeth Borchers trägt den Titel "Märchen" - dass es plötzlich zu schneien beginnt, nur weil jemand nach Schnee sucht, passiert eben nur im Gedicht.

Mich verbinden die ersten Schneeflocken, wenn sie denn endlich kommen, jedes Jahr wieder mit der Zeit der Märchen, der Kindheit. Mit meiner eigenen Dorfkindheit, in der es so viel Schnee gab, dass meine Mutter ihn nicht hoch genug werfen konnte, um mir einen Weg zur Straße freizuschaufeln, und in der Bergbauernhöfe gelegentlich durch den Schnee von der Umwelt abgeschnitten waren. Das Schönste waren die kalten Vormittage mit dem hartgefrorenen Neuschnee, auf dem wir Kinder schi- und schlittenfahren, ja sogar gehen konnten, ohne einzubrechen; und der Firn war voller Kristalle. Wenn ich meiner Tochter davon erzähle, leuchten sie auch mir wieder auf.

Sie liebt den Schnee über alles, erwartet ihn sehnsüchtig, und wenn es in Wien wieder einmal lange nicht schneit, findet sie auf dem Weg zum Kindergarten gelegentlich ein Auto, das den Schnee von irgendwoher in die Stadt gebracht hat. Im letzten Winter sind wir einmal, als alles weiß war, zu spät in den Kindergarten gekommen, weil sie überall Schnee gesammelt hat und wir uns voll Freude gegenseitig damit beworfen haben; und weil sie so viele Schneeengel machen musste. Dieses Wort habe ich von ihr gelernt - es bedeutet: sich rücklings auf den Schnee legen und Arme und Beine von sich strecken. Der Schnee - ein Stück Märchen, ein Stück Kindheit; ich hoffe, dass er auch heuer noch kommt.

Service

Buch, Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell, "Wintergedichte", Verlag Philipp Reclam jun.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Georg Friedrich Händel/1685 - 1759
Album: WINTER - KLASSISCHE MUSIK FÜR ALLE JAHRESZEITEN
Titel: Allegro - 5.Satz aus dem Concerto grosso op.6 Nr.5 in D-Dur HWV 323
Orchesterkonzert
Orchester: Boston Baroque Orchestra
Leitung: Martin Pearlman
Länge: 02:00 min
Label: Telarc 80330

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