Gedanken für den Tag

von Hubert Gaisbauer, Publizist und Kunstexperte. "Nicht Meißeln und nicht Malen verschafft Seelenfrieden" - Zum 450. Todestag von Michelangelo Buonarroti. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Non vi si pensa quanto sanque cost" - Diese Worte aus Dantes "Paradiso" stehen auf dem leeren Längsbalken des Kreuzes hinter einer Pietà, die Michelangelo auf Wunsch von Vittoria Colonna gezeichnet hat. Übersetzt heißt diese Zeile: "Und denkt doch keiner, wie viel Blut es kostet" - oder prägnanter: "Nicht auszudenken, wie kostbar Blut ist".

Die Marquesa Colonna war Michelangelos ebenbürtige und geistreiche Briefpartnerin. Sie verstand, was Michelangelo mit dieser Zeichnung ausdrücken wollte, wie sehr die Menschen der Erlösung durch das Blut Christi bedürfen. Vittoria Colonna war eine Schlüsselfigur der intellektuellen Bewegung der Spirituali. Anders als der Dominikaner und Bußprediger Savonarola sahen diese Schriftsteller, Künstler, Diplomaten und Kardinäle nicht in einem Gottesstaat die Zukunft der verrotteten katholischen Kirche, sondern in einer Erneuerung im Geiste und im Vertrauen auf die Erlösung. In der Betonung solchen Glaubens waren sie reformatorischen Gedanken sehr nahe. Viele behielten ihre Überzeugung aber bei sich, aus Angst vor der Inquisition. Man nannte sie dann Nikodemiker, nach dem jüdischen Ratsherrn Nikodemus, von dem das Johannesevangelium berichtet, dass er mit Jesus in der Nacht ein theologisches Gespräch führte.

Michelangelo stellt sich in seiner dritten großen, der Florentiner Pietà als Nikodemus dar. Damit bekennt sich der Schöpfer der stürzenden Verdammten im "Jüngsten Gericht" zum Glauben, dass - wie im Johannes-Evangelium Jesus zu Nikodemus sagt: "Gott seinen Sohn nicht in die Welt gesandt hat, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde" (Joh 3,17).

Es bleibt ein Rätsel, warum Michelangelo eines Tages auf diese Pietà, die er eigentlich für sein Grabmal bestimmt hatte, mit dem Hammer einschlug und sie schließlich seinem Diener schenkte.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Pietro Paolo Boorano
Titel: Fantasia
Ausführende: Accademia strumentale italiana, Leitung: Alberto Rasi
Länge: 02:00 min
Label: Stradivarius STR 33396

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