Radiokolleg - Die Alte Welt am Abgrund

Vorgeschichten zum Ersten Weltkrieg (2).
Gestaltung: Martin Adel

Der Große Krieg? Ein europäischer Bürgerkrieg? Der Begriff "Erster Weltkrieg" hat sich eingebürgert, gesehen als Vorläufer und Mit-Verursacher des Zweiten Weltkriegs. Aber die Bezeichnung hat auch insofern seine Berechtigung, als in ihn mehr als drei Dutzend durchaus auch außereuropäische Staaten verwickelt waren.

Das wiederum berührt die Vorgeschichte zum Ausbruch des "Great War" oder "Grande Guerre" (wie der Erste Weltkrieg im angelsächsischen und französischen Raum heute noch häufig genannt wird): Man mag das Attentat von Sarajewo als Auslöser betrachten, die Ursachen sind andere. Kurz davor stand der Imperialismus mit seinem globalen Anspruch der zumindest ökonomischen Kolonialisierung auf seinem Höhepunkt. Und Italien, besonders aber Deutschland hatten nicht den ihrem Selbstverständnis entsprechenden Anteil für sich reklamieren können. Zwar hielt besonders die englische weltweit führende Handels- und Bankwelt einen großen europäischen Krieg für abwendbar wie vermeidbar - zu groß würde der allgemeine Verlust für die gerade erst wieder boomende Wirtschaft sein; andererseits nahmen schwere politische Krisen und militärisches Kräftemessen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu, weltweit und bis zu den beiden Balkankriegen 1912 und 1913. Und 1913 schon war der belgische Militärattaché in Potsdam gewarnt worden: ein Krieg sei "unvermeidlich", und es sei "unumgänglich, dass die Schwachen sich auf Seite der Starken stellten". Längst hatte der deutsche Kaiser mit seinem favorisierten Flottenprogramm die Briten ganz bewusst herausgefordert.

Die jeweiligen Propaganda-Maschinerien waren angeworfen, und die Kriegsindustrie lief auf Hochtouren: Maschinengewehre, U-Boote, Land- und Seeminen, Flugzeuge, Handgranaten, Panzer, chemische Waffen, Stacheldraht und Geschütze, wie es sie noch nie gegeben hatte, standen zur Verfügung und sollten eingesetzt werden. Mehr als 100 Divisionen standen für den Aufmarsch in Europa bereit, und in den Tagen der Mobilmachung sollte allein der deutsche Generalstab 11.000 Züge koordinieren. Dazu kam der aufgestaute Revanchismus in den rasant wachsenden Massengesellschaften. Alles wartete auf "ein läuterndes Gewitter", einen Angriffs-, einen Blitzkrieg - im Vertrauen auf die eigene Feuerkraft.

"Man hatte jedoch noch nicht begriffen, dass die Feuerkraft nur dann wirkungsvoll ist, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt und präzise eingesetzt wird." (J. Keegan, S. 37f) Selbst die alten Generalstäbler verschätzten sich gewaltig: Interessant, gerade diese sozial konservative (zumeist aristokratische) Elite setzte auf die eigene Schlagkraft und kalkulierte mit wenigen Wochen, während Hunderttausende von Infanteristen auf die Schlachtbank geführt werden sollten, nicht viel anders gerüstet (abgesehen von den Waffen) und gekleidet wie 100 Jahre zuvor bei Waterloo. Das "Ancien Régime" zerbricht an der Moderne.

Service

Harold James: Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Fall und Aufstieg 1914 - 2001. C.H.Beck 2004.
Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. Luchterhand 1999.
John Keegan: Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie. Rororo 61194.
Fritz Fischer: Hitler war kein Betriebsunfall. Beck'sche Reihe 459.
Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. DVA 2013.
Manfried Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg: Und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918. Böhlau Verlag 2013.

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