Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Theologin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche". "Freiheit, die sich erfindet und mich erfindet Tag für Tag" - Zum 100. Geburtstag von Octavio Paz. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Jeder von uns ist ein einzigartiges und besonderes Wesen. Daher wird die Freiheit zur Tyrannei, wenn wir versuchen, sie den anderen aufzuzwingen." In seinen essayistischen Schriften erinnerte Octavio Paz immer wieder daran, dass die Freiheit des anderen die Bedingung der eigenen Freiheit ist: "Kaum verwandelt sich die Freiheit in ein Absolutum, hört sie auf, Freiheit zu sein: ihr wahrer Name ist Despotismus."

Als Octavio Paz 1981 den renommierten Cervantes-Preis erhielt, wies er auf jenen hin, nach dem der Preis benannt ist, den Autor des "Don Quijote": "Mit Cervantes beginnt die Kritik des Absoluten: es beginnt die Freiheit. Und sie beginnt mit einem Lächeln, nicht der Freude, sondern des Wissens. Der Mensch ist ein prekäres, komplexes, doppeltes oder dreifaches Wesen, von Phantasmen heimgesucht, von Begierden getrieben, von Sehnsucht zernagt: ein prachtvolles und klägliches Schauspiel. Jeder Mensch ist ein einzigartiges Wesen, und jeder Mensch ist allen anderen ähnlich. Jeder Mensch ist einmalig und jeder Mensch ist viele Menschen, die er nicht kennt: das Ich ist pluralisch. Cervantes lächelt: lernen, frei zu sein, heißt lernen, zu lächeln." Soweit Octavio Paz.

Was ist Humor? Für Christian Morgenstern war es "die Betrachtungsweise des Endlichen vom Standpunkte des Unendlichen aus". So gewinnt man Distanz sogar zu Leid und Tragischem, kann man lächeln, auch wenn einem die Tränen in den Augen stehen. Christian Morgenstern, der am 31. März vor genau 100 Jahren, also just an dem Tag starb, an dem Octavio Paz geboren wurde, und der wie Paz Begegnung mit östlichem Denken und mystischen Erfahrungen hatte, löste die Wörter aus gewohnten Bedeutungen, betrieb eine "Umwortung aller Worte", wie er selbst es nannte. Und schuf damit jene einzigartigen Bilder und Gestalten wie das Nasobem und Palmström. Seine Texte sind tanzende Hör- und Sprechgedichte, aber auch der visuellen Poesie hat er mit "Fisches Nachtgesang" den Weg bereitet.

Schmunzeln schützt - und Morgenstern hilft dabei. Mögen Sie seine "zwei Wurzeln" ins Wochenende begleiten:

Zwei Tannenwurzeln groß und alt
unterhalten sich im Wald.
Was droben in den Wipfeln rauscht,
das wird hier unten ausgetauscht.
Ein altes Eichhorn sitzt dabei
und strickt wohl Strümpfe für die zwei.
Die eine sagt: knig. Die andre sagt: knag.
Das ist genug für einen Tag.

Service

Buch, Octavio Paz, "Gedichte", Verlag Suhrkamp
Buch, Christian Morgenstern, "Gedichte in einem Band", Insel Verlag

Kostenfreie Podcasts:
Gedanken für den Tag - XML
Gedanken für den Tag - iTunes

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Manuel Maria Ponce/1882 - 1948
Bearbeiter/Bearbeiterin: Jascha Heifetz /Arrangement/1901 - 1987
Album: JASCHA HEIFETZ: MINIATUREN FÜR VIOLINE UND KLAVIER
Titel: Estrellita < Kleiner Stern > - mexikanisches Lied / Bearbeitung für Violine und Klavier
Solist/Solistin: Elena Denisova /Violine
Solist/Solistin: Alexei Kornienko /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Arte Nova Classics 74321721242

weiteren Inhalt einblenden