Im Gespräch

"Ungarn ist trotzdem meine Heimat"
Renata Schmidtkunz spricht mit Ágnes Heller, Philosophin

Sie ist fast 85 Jahre alt, Mutter von einer Tochter und einem Sohn, Großmutter von 6 Enkelkindern und Urgroßmutter von einem Urenkel. Sie ist interessiert am Alltagsleben von Menschen, sieht ihre Aufgabe darin, Fragen zu stellen und ist trotz heftigster Propaganda gegen ihre Person nicht bereit, sich die Liebe zu ihrer ungarischen Heimat absprechen zu lassen. Und sie ist eine der bedeutendsten europäischen Philosophinnen unserer Zeit: Ágnes Heller, geboren 1929 in Budapest, der Vater stammte aus Wien, die Großmutter Sophie war eine geborene Meller und eine der ersten Frauen, die an der Universität von Wien studierten. Ihre Fächer waren Deutsch und Geschichte.
Weil die Zeiten schwer waren, sagt sie, bekamen die Eltern nur ein Kind. Geschwister hat sie immer vermisst. Der Vater, ein Jurist, der vielen ungarischen Juden zur Flucht verhalf, wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Sie selbst überlebte mit ihrer Mutter in Budapest nur knapp. Nach dem Krieg wird sie Studentin eines der bedeutendsten Philosophen des Marxismus, Gyorgi Lukacs. Sie wird seine Assistentin, beginnt an der Universität zu lehren, begreift, dass Marx die Freiheit der Menschen im Auge hatte und vertritt die Ansicht, dass der Marxismus behutsam an die Lebensbedingungen der jeweiligen Länder angepasst werden muss. Unter Janos Kádár, dem Restaurator des sowjetischen Einflusses im Ungarn nach 1956 wird sie 1958 von der Universität entfernt, 1973 auch aus der ungarischen Akademie der Wissenschaften wegen "Abweichung" ausgeschlossen. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Philosophen Ferenc Feher, emigriert sie 1977 nach Australien. An der Universität von Melbourne lehrt sie von 1978 - 1986 Soziologie. 1987 überträgt man ihr den Hannah Arendt Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in Greenwich Village in New York. In den folgenden Jahren entwickelt sie eine neue Art des Neokonservativismus, ganz besonders unter dem Einfluss von 9/11.
Seit ihrer Emeritierung pendelt sie zwischen New York und Budapest, schreibt über Shakespeare, Ästhetik, politische Theorie, die Rolle Osteuropas in der Geschichte des Kontinents, Ethik.
Sie ist mit zahllosen international renommierten Preisen ausgezeichnet worden.
Ich habe Agnes Heller in Budapest getroffen, um sie zu fragen, was der Wahlsieg Orbán am vergangenen Sonntag bedeutet und wohin Ungarn sich entwickeln wird. Dass es in unserem Gespräch dann doch sehr schnell um Philosophie ging, liegt im Wesen der Philosophin.

Service

Ágnes Heller, "Alltag und Geschichte - Zur sozialistischen Gesellschaftslehre", Luchterhand, Neuwied 1970

Ágnes Heller und Hans Joas (Hrsg.), "Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion", Suhrkamp, Frankfurt am Main 1978

Ágnes Heller, "Theorie der Bedürfnisse bei Marx", mit einem Vorwort von Pier Aldo Rovatti, Berlin 1976

Ágnes Heller, "Biopolitik", aus dem Englischen von Felix Ensslin, Campus, Frankfurt am Main, 1995

Ágnes Heller, "Der Mensch der Renaissance", aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1988

Ágnes Heller, "Ist die Moderne lebensfähig?", Campus, Frankfurt am Main, 1995

Ágnes Heller, "Der Affe auf dem Fahrrad: Eine Lebensgeschichte", Bearbeitung von János Köbányai, aus dem Ungarischen von Christian Polzin und Irene Rübbert, Philo, Berlin/Wien 1999

Ágnes Heller, "Die Auferstehung des jüdischen Jesus", aus dem Ungarischen von Christina Kunze. Philo, Berlin/Wien 2002

Ágnes Heller, "Die Linke im Osten - die Linke im Westen. Ein Beitrag zur Morphologie einer problematischen Beziehung", Index e.V., Köln, 1986

Ágnes Heller, "Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács", Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977

Ágnes Heller, "Theorie der Gefühle", VSA, Hamburg 1980

Ágnes Heller, "Nach zwanzig Jahren", in " Das Revolutionsjahr 1989 - Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur" von Bernd Florath (Hrsg.), wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten, Band 34, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

Ágnes Heller, "Nietzsche on Dreams", in "Die Neugier des Glücklichen" von B.-Christoph Streckhardt (Hrsg). Verlag der Bauhaus-Universität Weimar 2012

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