Zwischenruf

von Superintendent Paul Weiland (St. Pölten)

Vor einiger Zeit ist mir ein Gedicht untergekommen, das mich sehr berührt hat. Es ist ein geistliches Gedicht und stammt von Andreas Knapp, einem katholischen Theologen, der der "Gemeinschaft der kleinen Brüder vom Evangelium" angehört und heute in Leipzig lebt und wirkt. Er ist Priester und Seelsorger, Dichter und Mönch, sein Geld verdient er sich als Fabrikarbeiter.

Mich hat sein Gedicht so angesprochen, weil es Glaube und Leben, Wirklichkeit und Vision, Sehnsucht und Alltag verbindet. In seinen Zeilen kommt auch eine Erfahrung zum Ausdruck, die heute in sehr unterschiedlichen Schattierungen von gelassen bis aggressiv, von subtil bis polternd, von reflektiert bis naiv erlebt werden kann.

Es ist die Erfahrung, den Glauben und die religiöse Dimension des Menschen aus dem öffentlichen Bewusstsein zu drängen. Privat kann jeder machen, was er will, aber sichtbar und öffentlich dürfen religiöse Inhalte und Glaubensüberzeugungen nicht werden.

Alle, die Religion und alles, was damit zusammenhängt, in das Reich des Fantastischen oder Illusionären abschieben wollen, übersehen meiner Meinung nach, dass in jedem Menschen eine religiöse Dimension angelegt ist. Sie muss nicht immer aktiviert sein, aber sie ist da wie die Fähigkeit eines Instruments, bestimmte Töne abgeben zu können, wenn man das Instrument beherrscht.

Diese religiöse Dimension kann umschrieben werden mit den Fragen nach dem Woher und Wohin des Lebens, mit dem Wort Liebe oder mit den Begriffen Verantwortung und Befreiung. Für mich bedeutet das, dass alle Menschen berührbar und offen sind für religiöse Fragen und Erscheinungsformen im weitesten Sinn. Das ist wohl auch ein Grund, warum die Werbung gerne religiöse Bilder und Inhalte verwendet. Defizite werden deshalb von Menschen häufig als Sehnsüchte wahrgenommen.

Ich denke, dass diese Erfahrung auch die Erklärung ist, warum totalitäre Regime bei ihrem Versuch, auch mit sehr restriktiven und harten Maßnahmen, Glaube und Religion aus dem Leben zu drängen, nur wenig Erfolg haben.

Jetzt aber zum Gedicht. Andreas Knapp hat das Gedicht zur ersten Zeile des Glaubensbekenntnisses "Ich glaube an Gott" geschrieben und zunächst die oft vorfindlichen Einstellungen beschrieben.

Gott,
Unwort der Jahrtausende
blutbesudelt und missbraucht
und darum endlich zu löschen
aus dem Vokabular der Menschheit

Redeverbot von Gott
getilgt werde sein Name
die Erinnerung an ihn vergehe
wie auf Erden so im Himmel

Dann hat er aber auch die Folgen beschrieben und Fragen gestellt:

Wenn unsere Sprache aber
dann ganz gottlos ist
in welchem Wort
wird unser Heimweh wohnen

Wem schreien wir noch
den Weltschmerz entgegen
und wen loben wir
für das Licht

Sie werden es ziemlich sicher nicht erraten, in welchem Zusammenhang mir dieses Gedicht wieder eingefallen ist. Es war vor 14 Tagen bei der Übertragung des Songcontests aus Kopenhagen. Als ich den Auftritt, die Inszenierung, die Selbstdarstellung des Künstlers Tom Neuwirth in der Kunstfigur Conchita Wurst gesehen habe, da ist mir spontan durch den Kopf gegangen, hier wird ganz stark die in jedem Menschen vorhandene religiöse Dimension angesprochen.

Das beginnt schon beim Bild. Die Künstlerin präsentiert sich vom Aussehen her ganz nah bestimmten Darstellungen von Jesus im Mittelalter oder auch verschiedenen Jesus Porträts des 18. Jahrhunderts. Das setzt sich fort beim Text. Es gibt eine Botschaft, die neu, befreiend, menschlich ist. Und das bestätigt sich in der Wahl der einzelnen Worte. Vom Auferstehen ist die Rede, von der Wiedergeburt, vom Licht, von Strafe und von Rache und vom Himmel.

Für diesen auch von der Punkteanzahl her gesehenen respektablen Sieg gibt es sicher viele Gründe. Da sind das hervorragende musikalische Arrangement, die tolle Stimme des Künstlers und die perfekte Inszenierung des Auftritts.

Für mich ist aber auch das - möglicherweise unbewusste - Aufnehmen von Bildern, Inhalten und Worten aus dem religiösen Bereich mit ein Grund für den Erfolg bei diesem europaweiten Musikwettbewerb.

Service

Buch, Andreas Knapp, "Tiefer als das Meer", Echter Verlag

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