Zwischenruf

von Christine Hubka (Wien)

Neue Chance nicht garantiert


Bernhard und Anna sind fast zehn Jahre verheiratet. Ihr Sohn geht in die Volksschule. Die Ehe kriselt. Anna verliebt sich in einen anderen Mann. Eines Abends teilt sie Bernhard mit, dass sie sich scheiden lassen will. Bernhard bittet. Bernhard weint. Bernhard schlägt zu. Anna geht mit dem blauen Auge und der aufgesprungenen Lippe zur Polizei. Bernhard wird wegen Körperverletzung angeklagt. 9 Monate Haft lautet das Urteil. Anna lässt sich scheiden. Bis hierher ist alles so verlaufen, wie es in einem Rechtsstaat sein soll. Gewalt ist kein Argument. Wer zuschlägt muss die Folgen tragen.

Bernhard tritt die Haft an. Er hat vor seiner Verurteilung täglich viele Stunden im Freien gearbeitet und hält jetzt die Enge des Haftraumes nicht aus. Untätigkeit und Bewegungsmangel nagen an ihm. Eines Tages dreht Bernhard durch. Er tobt. Er schreit. Beamte eilen herbei. Versuchen ihn zu beruhigen. Endlich wird er überwältigt, steht erneut vor dem Richter.

Er wird in eine Anstalt für sogenannte geistig abnorme Rechtsbrecher, in den Maßnahmenvollzug eingewiesen. Nach neun Monaten hat er seine Strafe verbüßt. Entlassen wird er nicht. So wie die meisten seiner Mithäftlinge im Maßnahmenvollzug am Ende der Strafe nicht entlassen werden. Unter ihnen auch Herr S., der Insasse in Stein, dessen Geschichte durch die Medien ging.

Aus der Justizanstalt Wien-Mittersteig schreibt Bernhard einen Brief an eine Pfarrgemeinde: "Ich wünsche mir jemanden, der ab und zu auf Besuch kommt." Frau Lehner ist bereit. Einmal in der Woche besucht sie Bernhard in der Justizanstalt Wien-Mittersteig. Damit verändert sich sein Leben.

Er schreibt ein Ansuchen, dass er sich eine Arbeit "draußen" suchen will. Frau Lehners Pfarrgemeinde sucht einen Hausarbeiter. Die Zuständigen wagen es und bieten Bernhard diese Teilzeitstelle an. So, wie das Gesetz es vorsieht, beginnt Bernhard in kleinen Schritten, sich außerhalb der Haftanstalt zu bewegen. Zuerst in Begleitung. Dann immer selbstständiger. Die Auflagen sind streng. Auf die Minute genau muss er pünktlich ins Gefängnis zurückkehren. Jedes Mal wird er untersucht, ob er Alkohol getrunken oder Drogen konsumiert hat.

An seinem Arbeitsplatz wissen nur einige wenige, wo der freundliche und tüchtige neue Mitarbeiter wohnt. Manche wundern sich, warum er so überpünktlich auch eine gemütliche Kaffeerunde am Ende der Arbeit verlässt und ein wenig hektisch zur U-Bahn läuft.

Immer wieder frage ich mich in dieser Zeit, wie die Menschen in der Pfarrgemeinde reagieren würden, wenn sie wüssten, dass Bernhard das Etikett "geistig abnorm" trägt. Ob sie ihm dann auch so wertschätzend und wohlwollend begegnen würden. Ob sie dann immer noch sehen, wie zuverlässig und kompetent er seine Arbeit verrichtet. Oder ob sie dann nur noch rote Warnlichter und Alarmglocken im Kopf haben würden, ängstlich ihn meiden und das Allerschlimmste erwarten würden.

Das Happy End bleibt leider aus: Neun Monate hatte das Urteil gelautet. Nach sieben Jahren Haft wird Bernhard auf Bewährung entlassen. Er bezieht ein Zimmer in einer Wohngruppe und arbeitet weiter als Hausarbeiter in der Pfarrgemeinde. In seiner Freizeit spielt er Gitarre. Er sucht andere, die mit ihm musizieren. Die sind schnell gefunden. Bernhard will mit seiner Vergangenheit nun offen umgehen. Das aber funktioniert überhaupt nicht. Wenn er jemandem erzählt, dass er im Gefängnis war, kommt sofort die Frage, wofür er denn sieben Jahre eingesperrt wurde. Wenn er die Frage nicht beantwortet, beginnen die Leute zu raten. Sie unterstellen ihm Dinge, die er nie getan hat und auch nie tun würde.

Monatelang versucht Bernhard vergeblich, sich einen Freundeskreis zu schaffen. Keiner will etwas mit ihm zu tun haben. Eines Tages gibt er auf. Bernhard fürchtet, dass sich auch in der Pfarrgemeinde die Menschen von ihm abwenden, wenn er seine Geschichte erzählt. Er packt seine Sachen und geht ins Ausland.

Jesus hat die, die schuldig geworden sind, nicht ins Ausland sondern ins Leben zurückgeschickt. Er hat ihnen eine Chance gegeben. Er hat sich nicht gefürchtet.

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