Radiokolleg - Ich bin Ende oder Anfang ...

Der rätselhafte Franz Kafka
(3). Gestaltung: Sabrina Adlbrecht

Franz Kafka, Schriftsteller aus Prag, stirbt am 3. Juni 1924 im Privatsanatorium Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg an Kehlkopftuberkulose, einen Monat vor seinem 41. Geburtstag. Die Wiener Presse nimmt keinerlei Notiz davon.
Seit 1917 weiß Kafka von seiner Krankheit, seit 1922 ist er als Versicherungsjurist frühpensioniert. Kierling ist die Endstation von Franz Kafkas Leidensweg durch Spitäler und Sanatorien, auf dem ihn Ängste und Todesvisionen begleiten. Zuletzt ist er bis auf die Knochen abgemagert, kann vor Schmerzen kaum noch essen und sprechen. Trotzdem beginnt er noch auf dem Sterbebett mit den Korrekturen zu seinem Erzählband "Ein Hungerkünstler", dessen Erscheinen er nicht mehr erleben wird.
Das Werk insgesamt ist schmal. Es sind hauptsächlich Erzählungen (von allerdings enormer Intensität wie etwa "Das Urteil", in einer einzigen Sommernacht 1912 geschrieben), und die drei Romanfragmente "Der Prozess", "Das Schloss" und "Der Verschollene". Aber jede Zeile darin steht für ein Gefühl des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht des Einzelnen gegenüber anonymen, nicht weiter begründbaren Autoritäten in Bürokratie, Justiz und Arbeitswelt ebenso wie in der Familie. Kafka revoltiert allerdings nicht nur gegen den eigenen Vater, sondern auch gegen die Vaterfigur der Psychoanalyse. Sein Weg zur Selbsterkenntnis ist zugleich Fluchtweg vor ihr. Er durchschaut die eigenen Lebensstrategien, ohne von ihnen lassen zu können; sein Humor ist der eines virtuosen Selbstinszenierungskünstlers: Die Absurdität des einsamen Menschen in der industriellen Massengesellschaft ist durch Franz Kafka exemplarisch spürbar geworden und ein wesentlicher Grund für seine politisch-ideologische Attraktivität bis heute. Der Begriff "kafkaesk", obwohl nur diffuser Widerschein der geistigen Überzeugungen Kafkas, ist längst in den allgemeinen Wortschatz übergegangen.

Er sei "ohne Vorfahren, ohne Ehe, ohne Nachkommen", so beschreibt er sich selbst, zwei Jahre vor seinem Tod: "Alle reichen mir die Hand (.) - aber zu fern für mich."

Trotzdem wurde Franz Kafka zu einer Symbolfigur der Entwicklungen im 20. Jahrhundert erhoben und von gleich mehreren Seiten politisch vereinnahmt: Östlich des "Eisernen Vorhangs" waren seine Parabeln über die Wirklichkeit lange Zeit verboten, galten sie doch als Ausdruck bürgerlichen "Kulturzerfalls", von "Dekadenz" und "Ausweglosigkeit". Nicht zufällig organisierte der Prager Germanist Eduard Goldstücker 1963 auf Schloss Liblice in Nordböhmen jene internationale Kafka-Konferenz, von der bedeutende Impulse für den sogenannten "Prager Frühling" fünf Jahre später ausgingen.

Die Brillanz und Klarheit von Kafkas Sprache hat, ganz im Sinn seiner absurden Realistik, zu zahllosen Deutungen und Aneignungen geführt. "Ich bin Ende ohne Anfang", schrieb Kafka - als hätte er die Mühen seiner Rezensenten, Biografen und auch vieler Leser/innen beim Interpretieren seines Lebens und Werks, all dem Hinein- und wieder Hinaus-Geheimnissen, vorausgeahnt.

Service

Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. Gebundene Ausgabe, 673 Seiten, 65 Abbildungen. (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2004. Auch als E-book erhältlich) ISBN 9783100751140

Ders.: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. Gebundene Ausgabe, 729 Seiten, 70 Abbildungen. (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2010. Auch als E-book erhältlich) ISBN: 978-3-10-075119-5

Ders.: Kafka. Die frühen Jahre. Erscheinungsdatum: 25.9.2014 ISBN-10: 3100751302

Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Fischer, Frankfurt a.M. 1951; erweiterte Ausgabe: Frankfurt am Main 1968; Neuauflage: onomato Verlag, Düsseldorf 2008 ISBN 978-3-939511-22-9

Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend. Francke, Bern 1958. ISBN-10: 3803136202

Klaus Wagenbach: Franz Kafka. (rororo Monographie) Rowohlt, Reinbek 1964 (Eine überarbeitete Neuausgabe erschien 2002, ISBN 3-499-50649-1)

Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben. Wagenbach, Berlin 1983, ISBN 3-8031-3509-5; 2., erweiterte und veränderte Auflage. Wagenbach, Berlin

Marie Haller-Nevermann, Dieter Rehwinkel: Franz Kafka: Visionär der Moderne. Wallstein Verlag, Göttingen, 2008. ASIN: B00JASNC3U

Harald Salfellner: Franz Kafka und Prag. 7., neubearbeitete Ausgabe. Vitalis-Verlag, Prag 2011, ISBN 978-3-89919-018-2.

Janko Ferk: Recht ist ein "Prozeß". Über Kafkas Rechtsphilosophie. Edition Atelier, Wien, 2006. ISBN 978-3-902498-10-6

Franz Baumer: Franz Kafka. Köpfe des Jahrhunderts, Band 18, Colloquium Verlag, Berlin 1989. ASIN: B00CKQB1TQ

Rotraut Hackermüller: Das Leben, das mich stört. Eine Dokumentation zu Kafkas letzten Jahren (1917 - 1924). Medusa-Verlag, Wien-Berlin, 1984. ISBN-10: 3854460945

Hartmut Binder: Kafka-Handbuch in zwei Bänden. Band 1: Der Mensch und seine Zeit. Kröner, Stuttgart 1979, ISBN 3-520-81701-2.

Heinz Politzer: Franz Kafka. Der Künstler. Suhrkamp Taschenbuch 433, Verlag Suhrkamp, Frankfurt am Main. Erste Auflage 1978. ISBN-10: 3518069330

Erich Heller und Joachim Beug (Hg.): Franz Kafka. Der Dichter über sein Werk. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München, 1977. ISBN-10: 3776530014

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