Zwischenruf

von Susanne Heine (Wien)

Sprachliche Abrüstung

Sprache ist ein besonderes Instrument. Sie dient der Verständigung, kann aber auch als Waffe eingesetzt werden. Menschen, die miteinander sprechen, versuchen einander zu verstehen, meistens jedenfalls. Sie können einander aber auch missverstehen, unabsichtlich, weil sie verschiedene ungeklärte Vorverständnisse haben, oder absichtlich, wenn sie auf Streit aus sind und den anderen die Worte im Mund umdrehen. Ich nenne das sprachliche Aufrüstung.

Auch wenn wir alltäglich miteinander sprechen, heißt das nicht, dass wir einander gleich verstehen. Oft braucht es die Rückfrage: Was meinst du mit dem, was du sagst? Verstehen ist ein Prozess, der längere Zeit braucht. Möglich, sogar wahrscheinlich, dass dabei unterschiedliche Ansichten zutage treten, aber dann klar und deutlich und nicht mehr verschleiert. Darüber kann auf eine Weise gesprochen werden, die keine Seite zu einem Verlierer macht. Wer nur verliert, lässt sich das auf die Dauer nicht gefallen, und die sprachliche Aufrüstung setzt sich fort. Für mich gilt das nicht nur für persönliche zwischenmenschliche Beziehungen, sondern auch für die Politik. Sprechen schafft Wirklichkeit. Leicht werden aus Worten Taten. Jeder handgreifliche Schlag beginnt mit bösen Worten. Ich schaue nicht nur in den fernen Osten, sondern auch auf das, was sich hierzulande an sprachlicher Aufrüstung tut - derzeit gegen die muslimische Bevölkerung. Wir brauchen eine sprachliche Abrüstung.

Nicht anders verhält es sich beim Umgang mit Texten, besonders mit religiösen Texten, die Urkunden des Glaubens darstellen, wie Bibel und Koran. Wer Texte verstehen will, deren Entstehung noch dazu hunderte von Jahren zurückliegt, muss sich umso mehr bemühen, dem nahe zu kommen, was so ein Text sagen will. Daher auch: Was meinen Bibel oder Koran mit dem, was sie sagen?

Immer wieder bekomme ich Briefe mit aneinandergereihten und aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten aus einer deutschen Übersetzung des Koran, um zu belegen, dass der Koran den Muslimen gebieten würde, Menschen zu töten. Denn der Koran gelte als Wort Gottes, das wörtlich zu nehmen sei. Auch das sehe ich als sprachliche Aufrüstung. Vom Koran, wie auch von der Bibel, gibt es unüberschaubar viele Übersetzungen in einer Vielzahl von Sprachen. Welche ist die "richtige", die den Aussagesinn des arabischen Originals erfasst? Jeder Begriff gewinnt seine Bedeutung aus dem Zusammenhang, in dem er steht, sprachlich und geschichtlich. Wer Begriffe oder Sätze wörtlich nimmt und darüber nicht nachdenkt, interpretiert bereits und hat schon die eigenen Ansichten oder Weltanschauungen eingetragen, unbewusst oder absichtlich.

Vor hundert Jahren ist Bertha von Suttner gestorben. Ihr Buch "Die Waffen nieder" ist eine Stimme gegen den Krieg. Im Rahmen des Wiener Projekts "Eine Stadt liest ein Buch" werden in einem privaten TV-Sender ein Jahr lang Abschnitte aus diesem Buch gelesen und kommentiert. Ich stelle mir nun vor, Christen und Muslime würden ein Jahr lang Stellen aus Bibel und Koran lesen, auch "heikle", und miteinander darüber sprechen. Das wäre eine sprachliche Abrüstung.

Dann könnte sich herausstellen, was ich aus jahrelanger Zusammenarbeit mit muslimischen Theologen gelernt habe: Der Koran versteht sich zwar als Wort Gottes, das dem Propheten Muhammad eingegeben wurde, aber betont zugleich Unendlichkeit und Unerschöpflichkeit des Wortes Gottes, das den Koran übersteigt. Daher heißt es: Selbst wenn alle Bäume auf der Erde Schreibrohre wären und in allen Meeren Tinte flösse, wäre es unmöglich, das Wort Gottes jemals erschöpfend zu erfassen (Q 31,27). "Gott wohnt im unzugänglichen Licht", heißt es in der Bibel (1Tim 6,16). Das fordert dazu heraus, bescheiden zu sein und das eigene Verständnis nicht absolut und an die Stelle Gottes zu setzen.

Beide Religionen gewinnen ihre Glaubwürdigkeit durch eine achtungsvolle und menschenfreundliche Praxis, womit sie den barmherzigen Gott bezeugen. Und beiden Religionen ist die Hoffnung auf Gottes letztes gerechtes Urteil gemeinsam. Auch als Christin kann ich unterschreiben, wenn im Koran steht: "Hätte Gott gewollt, er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht - doch wollte er euch mit dem prüfen, was er euch gab. Wetteifert darum um das Gute! Euer aller Rückkehr ist zu Gott, er wird euch dann kundtun, worin ihr immer wieder uneins wart" (Q 5,48).

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