Zwischenruf

von Pfarrer Marco Uschmann (Wien)

Blättern Sie noch beim Lesen oder klicken Sie schon? Meiner Erfahrung nach lassen sich die Menschen in zwei Gruppen einteilen: diejenigen, die auf das konventionelle Buch nicht verzichten wollen, und diejenigen, die ohne ihr E-Book nicht mehr leben können. Heute geht die 66. Frankfurter Buchmesse zu Ende. Aber was heißt schon "das Buch"? Gibt es diese Ansammlung von Papier zwischen zwei Deckeln doch inzwischen schon in vielfältigster Form - eben als E-Book, als Tablet, auf dem Smartphone oder am Bildschirm zu Hause.

Seit über 500 Jahren gibt es die Frankfurter Buchmesse: Begonnen hat alles in Frankfurt am Main schon kurz nachdem Johannes Gutenberg in Mainz, nur wenige Kilometer von Frankfurt entfernt, den Buchdruck revolutioniert hatte. Wenig später setzte sich die Reformation durch in Deutschland. Dann aber kam die Gegenreformation. Sie erwies sich als verhängnisvoll, vor allem die Zensur durch die Kaiserliche Bücherkommission. Sie verstand sich als Speerspitze der katholischen Gegenreformation. Erst Jahrhunderte später lebte die Buchmesse in Frankfurt infolge der Teilung Deutschlands wieder auf.

Während der Buchmesse werden zahlreiche Preise verliehen. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ist dabei der politisch bedeutendste. Diesen Preis erhält heute (12.10.2014) in der Frankfurter Paulskirche der New Yorker Jaron Lanier. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, hält die Laudatio.

In der Begründung heißt es, Lanier habe die Risiken, die die Digitalisierung für die freie Lebensgestaltung des Menschen berge, erkannt. Sein jüngstes Buch "Wem gehört die Zukunft" sei ein Appell, "wachsam gegenüber Unfreiheit, Missbrauch und Überwachung zu sein". Eindringlich weist Lanier auf die Gefahren hin, die unserer offenen Gesellschaft drohen: Wenn ich beispielsweise mein Smartphone ausnutzen will, dann muss ich mein gesamtes Telefonbuch und alle meine Kontakte freischalten. Sonst funktionieren etliche Apps und Programme einfach nicht. Dabei muss mir bewusst sein, dass ich diesen Gewinn an Vielfalt und Freiheit teuer bezahle. Ich gebe meine Privatsphäre, meine persönlichen Daten und Gewohnheiten preis. Mit diesen Daten blühen dann die Geschäfte von Datenhändlern und diverser Unternehmen - freilich ohne dass ich davon einen Gewinn hätte. Oder es verhindern könnte. Das bedeutet schließlich nichts anderes, als dass ich auf digitale Kategorien reduziert werde. Laniers jüngstes Werk "Wem gehört die Zukunft" mahnt zur Wachsamkeit. Der digitalen Welt müssen Strukturen vorgegeben werden, die die Rechte des Individuums beachten und die demokratische Teilhabe aller fördern.

Seine Entwicklung zum Kritiker der Rolle und Funktion der Massen in der digitalen Welt sieht Lanier in familiären Erfahrungen angelegt. Familienangehörige seiner Mutter wurden in der Zeit des Nationalsozialismus in einem Konzentrationslager in Österreich ermordet. Die Familie seines Vaters wurde Opfer von Pogromen in Russland. Es ist nur konsequent, wenn Lanier eine "digitale Barbarei" durch die Aktivität von Massen in der Onlinewelt befürchtet.

Das Internet fördert nach Laniers Überzeugung den Glauben daran, dass ein Kollektiv Intelligenz, Ideen und Meinungen hervorbringen könne, die denen des Individuums überlegen seien. Dieser Glaube führe dazu, dass das Kollektiv als wichtig und real angesehen werde, nicht aber der einzelne Mensch. Lanier ist ein Pionier der digitalen Welt. Er hat erkannt, welche Risiken dies für die freie Lebensgestaltung eines jeden Menschen birgt.

Die Frankfurter Buchmesse ist rund um die Reformation entstanden. Schon damals ging es um Freiheit und Verantwortung des Einzelnen. "Von der Freiheit eines Christenmenschen" heißt eine der Schriften Martin Luthers. Der Reformator kämpfte gegen die Macht und das Diktat der Kirche. Der Mensch steht unmittelbar vor Gott, mit seiner Freiheit und mit seiner Pflicht. Und mit seiner Verantwortung der Welt und den Mitmenschen gegenüber.

Service

Buch, Jaron Lanier, "Wem gehört die Zukunft?", Verlag Hoffmann und Campe

Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Georg Friedrich Händel
Titel: Konzert für Oboe und Streicher Nr.2 (alte Nr.1) in B-Dur HWV 301
* Allegro - 2.Satz (00:01:44)
Orchester: The English Concert
Leitung: Trevor Pinnock
Ausführender/Ausführende: David Reichenberg /Oboe
Ausführender/Ausführende: Simon Standage /Violine
Ausführender/Ausführende: Micaela Comberti /Violine
Ausführender/Ausführende: Anthony Pleeth /Violoncello
Ausführender/Ausführende: Trevor Pinnock /Cembalo
Länge: 00:26 min
Label: DG 4152912

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