Zwischenruf

von Martin Schenk (Wien)

Bedrohung durch Beschämung

Auf einem Dorfplatz, spät nachmittags. Eine Kinderschar sitzt am Boden über Papier gebeugt, rechnet, zeichnet und schreibt. Zwei Frauen haben den Kindern, die sowohl aus einer höheren wie aus einer niederen indischen Kaste kommen, Aufgaben vorgelegt. Das Kastensystem ist trotz gesetzlicher Verbote noch immer in Indien kulturell stark wirksam. Später werden die beiden Ökonominnen Karla Hoff und Priyanka Pandey die Ergebnisse dieses ungewöhnlichen Feldversuches veröffentlichen. In einem ersten Durchgang schnitten die Kinder aus den niederen Kasten leicht besser ab als die aus den höheren. Niemand wusste, wer welcher Kaste angehört. Dann wiederholte man das Experiment. Zuerst mussten die Kinder vortreten, sich mit Namen, Dorf und Kastenzugehörigkeit vorstellen, dann durften sie die Aufgaben lösen. Das Ergebnis: Die Leistungen der Kinder aus den unteren Kasten waren deutlich schlechter.

Wenn man eine Gruppe verletzlich macht hinsichtlich negativer Vorurteile, die in der Gesellschaft vorherrschen, dann bleibt das nicht ohne Wirkung. Wer damit rechnet, als unterlegen zu gelten, bringt schlechtere Leistungen. "Stereotype threat" wird dieser Effekt genannt, Bedrohung durch Beschämung. Umgedreht heißt das, dass die besten Entwicklungsvoraussetzungen in einem anerkennenden Umfeld zu finden sind, dort wo wir an unseren Erfolg glauben dürfen. Zukunft gibt es, wo wir an unsere Fähigkeiten glauben dürfen. Weil andere an uns glauben. Wo ich meinem Können traue, dort gibt es auch welche, die mir etwas zu-trauen. Ein Credo. Ich glaube an dich. Statusangst und die Folgen negativer Bewertung sind hingegen Lern- und Leistungshemmer.

Soziale Scham ist nicht bloß ein harmloses persönliches Gefühl. Beschämung ist eine soziale Waffe zwischen oben und unten. Ich werde zum Objekt des Blickes anderer. Andere bestimmen, wie ich mich zu sehen habe. Die Betroffenen fürchten, ihr Gesicht zu verlieren und wissen ihr Ansehen bedroht. Beschämung hält Menschen klein und rechtfertigt die Bloßstellung und Demütigung als von den Beschämten selbst verschuldet. Das ist das Tückische daran. "Meine Scham ist ein Geständnis", formulierte Jean Paul Sartre. Soziale Scham fordert dazu auf, eine Erklärung für den Sinn der Verletzung zu finden, die man zuvor erfahren hat.

Die Grundhaltung dahinter ist, sich als etwas Besseres zu fühlen. In den Geschichten des Jesus von Nazareth ist der Blick, der auf andere herabsieht, ein Dauerthema. In der Synagoge schimpft einer über den da hinten, weil er nicht so fromm ist. "Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die anderen Menschen", betet er. Bei den Arbeitern im Weinberg werden "die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten" sein. In der Geschichte vom Sohn, der nach langer Zeit wieder nach Hause kommt, geht es auch um den Blick, um den Blick des Bruders. Der brave Sohn sieht auf den heimkommenden, verloren geglaubten Bruder hinunter. Der Vater aber sagt: "Du bist immer bei mir, und dir gehört alles, was ich habe. Aber jetzt müssten wir doch feiern und uns freuen! Denn dein Bruder war tot und ist wieder am Leben. Er war verloren und ist wiedergefunden." Und eine andere Stelle: Die Gesetzeslehrer sagen über Jesus: "Er lässt das Gesindel zu sich! Er isst sogar mit ihnen!" Und dann die Geschichte von der armen Witwe: Sie spendet zwei kleine Kupfermünzen. Die Reichen lächeln darüber. Jesu sagt: "Ich versichere euch: Diese arme Witwe hat mehr gegeben als alle anderen. Die anderen haben nur etwas von ihrem Überfluss abgegeben."

Zusammengefasst: Haltungen und Vorstellungen, die davon ausgehen, man sei etwas Besseres, können sich auf alles berufen, nur nicht auf Jesus.

Anerkennung müsste ja eigentlich unbegrenzt vorhanden sein. Ist sie aber nicht. Sie wird wie Geld zu einem knappen Gut, das sich nach dem sozialen Status und der sozialen Hierarchie in einer Gesellschaft verteilt. Die besten Entwicklungsvoraussetzungen sind in einem anerkennenden Umfeld zu finden, dort wo wir an unseren Erfolg glauben dürfen. Wo wir an unsere Fähigkeiten glauben dürfen. Weil andere an uns glauben. Ein Credo. Ich glaube an dich.

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