Zwischenruf

von Christine Hubka (Wien)

Fremdenlegion 2014

Anfang der 1960er Jahre kam ich ins Gymnasium. Ein wohlbehütetes Mädchen war ich damals. Aber auch damals waren nicht alle Kinder und Jugendlichen wohlbehütet. Im Park, wo wir uns nach der Schule trafen, gab es natürlich nicht nur Mädchen, sondern auch Burschen. Ein wenig älter als wir.

Manche von ihnen waren sehr verrucht: Ihre Haare waren so lang, dass sie bis zum Kragen reichten - ein unerhörter Anblick in Zeiten, wo ordentliche Männerköpfe kurz geschoren zu sein hatten. Sie rauchten - nicht heimlich, sondern offen provokant. Und sie redeten davon, dass sie das alles hier - was immer sie damit meinten - nun bald hinter sich lassen würden.

Denn sie wollten in den Algerienkrieg ziehen. Sie wollten in die Fremdenlegion gehen. Dort wären sie dann die Harten, aber die Guten. Dort würden sie endlich nicht mehr unter ihrem Wert angesehen. Dort würden sie alles lernen, was ihnen im Leben wirklich weiterhelfen würde. Nicht diese langweiligen mathematischen Sachen. Nicht diese unnötigen Vokabeln. Ich erinnere mich: Solche Träume hatten vor allem Burschen, die gerade die siebente Klasse des Gymnasiums mit wenig Erfolg wiederholten.

Wir kleinen Mädchen waren stumm vor Staunen. Ehrfurchtsvoll schauten wir zu diesen Jugendlichen auf,die sich zutrauten, in einen fernen Krieg zu ziehen. Weg von zu Hause. Fort vom eigenen, weichen, warmen Bett. Was, wenn du krank wirst? Was, wenn du Heimweh bekommst? Was, wenn die dort im Krieg nicht nett zu dir sind?

Unsere Fragen taten die jungen Männer mit überlegenem Lachen und einem Zug an der Zigarette ab. Wir brauchen das alles nicht. Wir sind eben keine Babys mehr. Wir werden es ihnen allen zeigen: den Lehrern, die uns zu Versagern erklären; dem Vater, der nur noch brüllt oder verachtungsvoll schweigt, aber nie ein freundliches, aufmunterndes Wort findet; der Mutter, die mit ihrem Lamentieren nur noch auf die Nerven geht.

Nicht alle, aber einige dieser Jungen haben sich tatsächlich aufgemacht und sind in diesen Krieg gezogen, der sie nichts angegangen ist. Was aus ihnen geworden ist, weiß ich nicht. Wie viel Leid und Traurigkeit sie ihren Familien mit diesem Schritt angetan haben, kann ich ahnen.

Und nun ziehen wieder junge Menschen in einen Krieg, der sie nichts angeht. Zuletzt wollte das ein 14-Jähriger. Ein Kind noch. Aber die Medien nennen ihn einen Djihadisten. Erst nach mehreren Meldungen fügten sie das Wort "mutmaßlich" hinzu. Sie setzen ihn mit denen gleich, die vor laufender Kamera Geiseln ermorden. Vermutungen werden verbreitet: Wollte er - oder wollte er nicht - den Wiener Westbahnhof in die Luft jagen?

Je öfter diese Frage gestellt und nicht beantworet wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich in den Köpfen die Antwort auf die Frage formt: Ja, er wollte das.

Obwohl bis jetzt noch gar keine Klarheit herrscht über die Motive und Pläne dieses Kindes. Denn mit 14 sind Buben und Mädchen noch Kinder. Alle Kinder haben Träume: Wenn ich groß bin, dann werde ich Raumfahrer, Ärztin, Lehrer, Kindergärtnerin oder Zugführer. Mich bewegt, ja mich bedrückt die Frage, warum ein Kind davon träumt, in den Krieg zu ziehen und mit Mordwaffen zu hantieren.

Die Jungs damals im Arnbergpark hatten schon so viel Ohnmacht erlebt, die hatten so wenig Erfolg und so viel Scheitern erlebt, dass sie auch einmal groß und stark und erfolgreich sein wollten. Sie sehnten sich nach Anerkennung. Sie sehnten sich, das Stigma des Versagers los zu werden.

Mich bewegt die Frage, was passiert ist, dass nur nocht der Traum vom Krieg ihm das Gefühl geben kann: Du bist echt cool. Was auch immer geschehen ist, es ist nicht seine Schuld. Wie viele Male hat er in seinen vierzehn Jahren Verachtung und Herabwürdigung erlebt?

Ich möchte wissen, wann zuletzt ein Erwachsener dieses Kind zärtlich in den Arm genommen hat, ihm über den Kopf gestreichelt hat und ihm ins Ohr geflüstert hat: Ich hab dich lieb. Ich weiß die Antwort nicht, aber ich fürchte, sie würde mich sehr traurig machen.

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