Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden" - Zum 100. Todestag des Dichters Georg Trakl. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldenen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düster hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder."

Mit diesen Zeilen beginnt das letzte Gedicht, das Georg Trakl geschrieben hat, bevor er heute vor hundert Jahren in einem Krakauer Militärspital an einer Überdosis Kokain starb. Als Soldat im Ersten Weltkrieg hatte er die Schlacht bei der ostgalizischen, in der heutigen Ukraine gelegenen, Stadt Grodek erlebt, hatte die "sterbenden Krieger" gesehen und "die wilde Klage ihrer zerbrochenen Münder" gehört, denn als ausgebildeter Apotheker musste er in einer Scheune neunzig Schwerverwundete ohne Beisein eines Arztes zwei Tage lang betreuen. Noch Wochen danach hatte er "das Stöhnen der Gepeinigten im Ohr und ihre Bitten, ihrer Qual ein Ende zu machen", erinnerte sich sein Förderer Ludwig von Ficker, der ihn im Krakauer Militärspital noch besuchen konnte.

Ob Georg Trakl den Tod bewusst gesucht hat, ob er an dieser Erfahrung des Ersten Weltkriegs zerbrochen ist oder ob er, wie Ilse Aichinger einmal sagte, Grodek schon immer in sich trug, lässt sich schwer sagen. Seit seiner frühen Jugend war er abhängig von Drogen, aber wären die richtigen Menschen um ihn gewesen, hätte er wohl nicht sterben müssen.

In seinem letzten Gedicht vergegenwärtigt er noch einmal eine Herbstlandschaft und sieht in ihr "sterbende Krieger", hört "die wilde Klage ihrer zerbrochenen Münder". Ich will nicht so tun, als könne man über dieses Jahrhundertgedicht und seine Bildwelt in zwei Minuten sprechen. Ich will nur noch seine letzte Verszeile nennen, die lautet: "Die ungeborenen Enkel". Dieser poetische Aufschrei Georg Trakls ist für mich die Basis des Gedenkens an den Ersten Weltkrieg, das in diesem Jahr so reichlich und vielfältig zelebriert wird: die Erinnerung an die tausendfachen Todesschreie und daran, wie viel Lebens- und Zukunftsmöglichkeit mit dem Tod jedes einzelnen Menschen zugrunde geht: "die ungeborenen Enkel".

Service

Werke von Georg Trakl:

Sämtliche Gedichte. Insel Verlag 2014

Das dichterische Werk. Deutscher Taschenbuch Verlag

Werke, Entwürfe, Briefe. Hrsg. v. Georg-Hans Kemper und Frank R. Max. Reclam Verlag


Werke über Georg Trakl:

Hans Weichselbaum: Georg Trakl. Eine Biographie. Otto Müller Verlag 2014

Rüdiger Görner: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Paul Zsolnay Verlag 2014


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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Zbigniew Preisner
Gesamttitel: DEKALOG / Soundtrack
Titel: Dekalog V
Länge: 02:00 min
Label: Pomaton POM CD 018

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