Gedanken für den Tag

2. März 2015, 06:56

Vor fünfzehn Jahren, nach einer Lesung, erzählte eine Frau aus dem Publikum, sie hätte das Haus an der Prinsengracht in Amsterdam besucht, in dem sich die Familie Frank zwei Jahre lang vor der Gestapo versteckt hielt, und sei erschüttert gewesen. Aber dann habe jemand gesagt, es sei ja alles schon so lange her, das habe sie getröstet. Damals wäre Anne Frank erst 71 Jahre alt gewesen, ein gutes, aktives Alter für eine wache, dem Leben zugewandte Frau, wie sie es mit Sicherheit geworden wäre. Heute, 70 Jahre nach ihrem Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen, nur wenige Monate vor der Befreiung durch englische Truppen, wäre sie im 86. Lebensjahr. Sie hätte Kinder und Enkelkinder, vielleicht Urenkel, in ihrem Kreis würde sie Feste feiern, einen Ehrenplatz am Familientisch einnehmen, sie könnte auf ein langes, erfolgreiches Berufsleben zurückblicken. Journalistin wollte sie werden, auf jeden Fall Schriftstellerin.

"Ich will nicht umsonst gelebt haben" schreibt sie, "ich will den Menschen, die um mich herum leben, Freude und Nutzen bringen." Ihr Mitgefühl, ihr feines Gespür für Menschen, ihr Humor, die Klugheit und Treffsicherheit mit der sie Personen und Situationen beschreibt, berechtigten sie zur Erwartung einer kreativen, fruchtbaren Zukunft. Sie wurde an der Schwelle zum Erwachsenwerden um diese Zukunft gebracht, sie wurde um all die Jahre gebracht, die sie hätte leben und wirken können, und auch wir, heute , wurden nach dem millionenfachen Mord an Menschen wie Anne Frank um eine reichere Gegenwart und um die Generationen ihrer Nachkommen betrogen, die ungeborenen Kinder und Enkel.

Deshalb wird es nie zu lange her sein, um sich in Trauer zu erinnern, der Verlust bleibt immer gegenwärtig.

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