Gedanken für den Tag

7. März 2015, 06:56

Man müsste das Tagebuch der Anne Frank zweimal im Leben lesen, als Jugendliche und als Erwachsene. Für Jugendliche ist es oft der Beginn ihrer Auseinandersetzung mit der Shoah. Manchen erscheint die Zeit des Nationalsozialismus bereits in sehr weite Ferne entrückt. Ihre Eltern und Großeltern sind nach dem Krieg aufgewachsen und die Shoah wurde nie Teil der oral history, sie blieb zu lange die Geschichte der anderen.

Doch die Lektüre von Anne Franks Tagebuch gibt den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus eine Geschichte und ein Gesicht: ein Backfisch, wie Anne sich selber nennt, ein Mädchen, das auch heute jungen Menschen noch nahe kommt und zu ihnen spricht, ihnen ihre geheimen Gedanken und Gefühle anvertraut, und sie antworten darauf mit ihrem noch unverbrauchten Mitgefühl und vorbehaltloser Identifikation.

Julia, die sechzehnjährige Tochter einer Freundin, spricht über Anne Frank so, als wäre sie eine Schulfreundin, der dieses schreckliche Schicksal zustößt, und sie fragt sich, wie man nur so unmenschlich, so grundlos grausam sein kann. So kommt sie zu einem ganz persönlichen Geschichtsverständnis. "Ich finde, ich habe so viele Gemeinsamkeiten mit Anne Frank", sagt sie, von ihren Lieblingsfächern und dem Wunsch Künstlerin zu werden, bis zu den Dingen, von denen sie mit niemandem spricht. "Genauso bin ich auch", sagt sie.

Am 12. Februar 1944 schreibt Anne Frank: "Ich sehne mich so, nach Reden, nach Freiheit, nach Freunden, nach Alleinsein, ich glaube, dass ich den Frühling in mir fühle", und "ich weiß, dass ich eine Frau bin mit innerer Stärke und viel Mut". Für Julia ist Anne Frank Vorbild und Seelenverwandte, in der sie sich wiederfindet und um die sie trauern kann wie um einen nahen Menschen.

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