Gedanken für den Tag

von Saskia Jungnikl, Journalistin. "Das Ende, der Anfang". Gestaltung: Alexandra Mantler

Tabu Suizid

Als mein Vater sich getötet hat, war ich nicht nur mit meiner Trauer konfrontiert und dem Schmerz über seinen Verlust, sondern auch mit dem gesellschaftlichen Umgang seiner Selbsttötung. Suizid ist ein Tabu. Darüber hatte ich vorher nie nachgedacht. Doch ab dem Juli 2008 gehörten solche Gespräche zu meinem Leben: Was macht dein Vater? Mein Vater ist tot. Oje, das tut mir leid. Woran ist er gestorben? Er hat sich erschossen.

Ich tue mir immer noch schwer damit, es auszusprechen, was weniger daran liegt, dass ich ein Problem damit habe, als vielmehr daran, dass ich mein Gegenüber gar nicht erst unvorbereitet in diese Situation bringen will. Die meisten sind entsetzt, verunsichert, irritiert. Nach dieser Aussage geht es im Gespräch nur schwer wieder bergauf. Fast jedes Mal ist die Unterhaltung bald darauf beendet und ich gehe mit diesem schalen Geschmack im Mund, dass ich besser nichts gesagt hätte, dass ich für den anderen nun nur so in Erinnerung bleiben werde: als die Tochter eines Selbstmörders.

Klar, ich könnte lügen. Es wäre einfacher. Aber dazu bin ich zu trotzig. Die Wahrheit ist, dass er sich getötet hat. Es käme mir vor wie ein Verrat an ihm. Und wie ein Verrat an mir, nachdem es mich so viel Kraft und Zeit gekostet hat, damit leben zu lernen. Und doch kann ich verstehen, wenn Menschen hier die Wahrheit verschweigen. Aus Angst vor einem Stigma. Aus Angst vor Getuschel, aus Angst vor Verurteilung.

Im Mittelalter wurden die Familienangehörigen von Suizidenten enteignet und aus der Dorfgemeinschaft verbannt. Bis in die 80er-Jahre gab es für Selbstmörder kein katholisch-kirchliches Begräbnis, die Toten wurden einfach irgendwo verscharrt. Wenn eine Familie schon mit all den Schmerzen eines Todesfalls umgehen muss, wer wird dann noch die Kraft aufbringen, sich dem Pfarrer zu stellen? Die Kirchen haben viel zu dem Tabu beigetragen.

Und ich glaube, dass das Tabu an dem faszinierenden Schrecken liegt, den ein Suizid an sich hat. Das eigene Leben zu bewahren ist ein Grundprinzip. Selbsterhaltung ist, was uns antreibt. Das Sich-selbst-töten kehrt das Prinzip der Lebenserhaltung um und das auch noch auf eine unabänderliche Art und Weise. Die Selbsttötung überschreitet eine Grenze, die in unserem Selbstverständnis als unüberschreitbar gilt.

Doch es ist wichtig, das Tabu zu brechen. Denn es schadet jenen, die sich töten wollen, weil sie sich nicht anvertrauen können. Und es schadet jenen, die zurückbleiben, weil sie über dieses große Entsetzen in ihrem Leben nicht reden können.

Service

Buch, Saskia Jungnikl, "Papa hat sich erschossen", Verlag Fischer

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Gabriel Faure/1845 - 1924
Album: FAURÉ: KLAVIERWERKE - Pascal Rogé
Titel: Nocturne für Klavier Nr.1 op.33 Nr.1
Solist/Solistin: Pascal Roge /Klavier
Länge: 01:50 min
Label: Decca 4256062

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