Gedanken für den Tag

von Susanne Scholl, Journalistin. "Flucht und andere Neuigkeiten". Gestaltung: Alexandra Mantler

Und wenn ich gehen muss?

Und natürlich habe ich ihn - diesen gepackten kleinen Fluchtkoffer im Hinterkopf. Die Frage, was nehme ich mit, wenn ich weg muss. Die stellt sich wohl jeder, der irgendwann einmal mit Verfolgung konfrontiert war.

Eine Freundin erzählte einmal von ihrer Großmutter, die wie durch ein Wunder das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt hatte. Und die bis ins hohe Alter ein kleines Köfferchen mit dem Notwendigsten neben ihrer Wohnungstüre stehen hatte.

Für mich, die Nachgeborene, gibt es dieses Köfferchen "nur" in meinem Kopf. Und es geht bei der Frage nach dem Inhalt nur am Rande um liebste Bücher oder Fotografien. Es geht darum, die liebsten Menschen mitzunehmen auf die Flucht. Sie retten zu können vor den Verfolgern. Es geht auch darum, sich immer wieder zu fragen, was wirklich wichtig ist in meinem Leben. Was muss drin sein, in diesem Koffer in meinem Kopf? Meine Kinder, meine engsten Verwandten und Freunde. Und alles, was ich bisher geschrieben habe. Eigentlich so wenig - und doch so viel.

Und dann denke ich an die Gespräche mit Flüchtlingen, die hier in Österreich gestrandet sind. Manchmal nur mit dem, was sie gerade am Leib trugen. Viele haben nicht einmal mehr Dokumente, die ihre Identität bestätigen könnten. Und man begegnet ihnen mit dem Vorwurf, sie hätten ihre Ausweise absichtlich vernichtet. Um nicht zurückgeschickt werden zu können.

Aber die meisten haben ja nicht einmal jenen kleinen Fluchtkoffer, den ich stets in meinem Kopf bereithalte. Sie konnten oft ihre Liebsten nicht mitnehmen, oder haben sie auf der Flucht verloren. Vor allem aber haben sich selbst verloren. Das, was sie ausmachte, als sie noch in dem lebten, was sie als Heimat betrachteten.

Und das ist wohl das Schlimmste an jeder Flucht. Dass man nicht nur sein Land verlassen muss, sondern auch einen wichtigen Teil seiner selbst zurücklässt. Einen Teil, der unwiederbringlich verloren bleibt - selbst wenn man irgendwann zurückkehren kann.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Peter Iljitsch Tschaikowsky/1840 - 1893
Gesamttitel: 50 Russische Volkslieder für Klavier zu vier Händen
Titel: Schneeball und Himbeergebüsch - Russisches Volkslied Nr.45 für Klavier zu vier Händen
Ausführende: Duo Crommelynck
Ausführender/Ausführende: Patrick Crommelynck /Klavier
Ausführender/Ausführende: Taeko Kuwata /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Claves 508805

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