Gedanken für den Tag

von Susanne Scholl, Journalistin. "Flucht und andere Neuigkeiten". Gestaltung: Alexandra Mantler

Nächstes Jahr in Jerusalem

Meine russischen Freunde haben für aussichtslose Situationen eine ganze Reihe sarkastischer Wahlsprüche bereit. Zum Beispiel: "Wir sind zu arm, um uns billige Kleider zu leisten". Oder: "Lasst uns auf unsere hoffnungslose Sache anstoßen". Oder und vor allem: "Die Hoffnung stirbt zuletzt". Und das gilt ja wohl für alle, die auf der Welt in aussichtslosen Situationen sind und trotzdem versuchen, das Beste daraus zu machen.

Zu Pessach sagt man als Jude: "Nächstes Jahr in Jerusalem". Und das hat viel mit dem russischen "die Hoffnung stirbt zuletzt" gemeinsam. Es bedeutet, dass man sich irgendwann - hoffentlich schon im nächsten Jahr, aber vielleicht auch erst in einigen Jahrzehnten - an einem freien, gastfreundlichen Ort wieder begegnen möchte, an dem man in Frieden und ohne Angst leben kann. "Nächstes Jahr in Jerusalem" also.

Eigentlich wollen wir ja nicht wissen, was sich die wünschen, die die Unsäglichkeit in Politik und menschlichem Miteinanderumgehen zwingt, ihr Land, ihren Geburtsort, ihre Gewohnheiten und ihre liebsten Menschen zu verlassen. Wir finden ja eigentlich, dass sie doch dankbar sein sollen für das Wenige, das wir für sie zu tun bereit sind. Und wenn sie sich nicht mehr wünschen, als bald schon wieder bei sich zu Hause sein zu können? Dort, wo sie den Duft der gewohnten Speisen und der gewohnten Natur einatmen und sich in ihrer Sprache mit ihnen vertrauten Menschen unterhalten können? Dann finden wir sie undankbar. Oder wir sagen sehr von oben herab: "Geh doch, wenn es dir hier nicht passt..."

Aber die Dankbarkeit für Schutz vor Verfolgung und Mord - sofern dieser Schutz tatsächlich vorhanden ist - macht ja das Heimweh nicht wett. Meine Tanten haben die Nazis in London überlebt - und sie waren immer dankbar dafür, in England Aufnahme gefunden zu haben. Und trotzdem sind sie fast gestorben vor Heimweh nach Wien.

"Nächstes Jahr in Jerusalem" also - heißt nur eines: Jeder Mensch hat wohl seinen Fantasieort - jenen Ort, wo er sich sicher und geborgen fühlt, wo er meint, daheim zu sein, dazuzugehören, sich nicht verstecken oder verstellen zu müssen. Einen Ort, an dem die Angst nur noch ein flüchtiger Schatten in der Erinnerung ist. Und das ist der Ort, der die Hoffnung nicht sterben lässt. In diesem Sinne: "Nächstes Jahr in Jerusalem".

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Fabian Gorodezky/unbekannt
Album: ESQUISSES HÉBRAÏQUES: KLARINETTENQUINTETTE ÜBER JÜDISCHE THEMEN
Titel: Jüdische Rhapsodie - Variationen für Klarinette und Streichquartett über ein chassidisches Thema (datiert 1942-47)
* Andante
Klarinettenquintett
Solist/Solistin: Dieter Klöcker /Klarinette
Ausführende: Vlach Quartett Prag
Ausführender/Ausführende: Jana Vlachova /Violine
Ausführender/Ausführende: Karel Stadtherr /Violine
Ausführender/Ausführende: Petr Verner /Viola
Ausführender/Ausführende: Mikael Ericsson /Violoncello
Länge: 02:00 min
Label: cpo 9996302 (2 CD)

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