Gedanken für den Tag

von Norbert Mayer, Leitender Redakteur im Feuilleton der Tageszeitung "Die Presse". "Seit heute, aber für immer ..." - Zum 100. Geburtstag von Christine Lavant. Gestaltung: Alexandra Mantler

Wie gut, dass ich verborgen bin
und niemals wieder sichtbar werde.
Mein Kern - im Widerspruch zur Erde -
begab sich selbst zum Monde hin,
jetzt kannst du ruhig schlafen.
Der Ort, wo wir uns trafen,
war niemals wirklich in der Zeit.
Verzeih mir dies - aus Einsamkeit
herausgeschälte - Wissen.
Vielleicht fühlt sich dein Kissen
trotzdem auch manchmal tauig an,
vielleicht verkündet dir der Hahn
vom Hühnerbaum her oft zu grell,
dass jetzt der Morgen wieder hell
und gläsern über Deinem Dach
heraufsteigt, während du ganz schwach
und übernächtig bist?
Ich bin es nicht, die dich dann quält,
ich bin die Magd, die Äpfel schält
im Mond und keinen isst.

Ab den Fünfzigerjahren, mit Mitte 30, fand Christine Lavant endlich die gebührende öffentliche Anerkennung für ihre Gedichte, sie erhielt sogar eine Künstlerprämie, Stipendien und Preise. Ihre Reaktion: "Dann habe ich halt geschrieben, geschrieben, geschrieben." Vieles verbrannte sie noch immer, aber schließlich hat sich doch ihre "eigene Art irgendwie durchgesetzt", wie sie sagte, "eben nicht mehr rilkisch". 1956 erschien der Band "Die Bettlerschale", ein kühnes Werk, 155 Gedichte.

Die meisten entstanden während Lavants Künstler-Freundschaft und Liebesbeziehung zu dem expressionistischen Maler Werner Berg. Den Text "Wie gut, dass ich verborgen bin" kann man also auch ohne große metaphysische Ambitionen einfach als Liebesgedicht lesen, aber eines, in dem bereits der Abschied dominiert: "Der Ort, wo wir uns trafen / war niemals wirklich in der Zeit", behauptet diese Verborgene mit ihrem aus Einsamkeit herausgeschälten Wissen. Sie spielt auf Versagen und Verrat an. Schon kräht der Hahn geradezu biblisch, aber die Vorwürfe an das Du bleiben sehr diskret, das Ich wird es nicht quälen - diese "Magd, die Äpfel schält im Mond und keinen isst." Sie versagt sich diesen Genuss, der vielleicht sogar die Anspielung an ein altes Kärntner Volkslied enthält.
Dort heißt es in der zweiten Strophe direkt derb: "Wer an Apfel schält, und er isst ihn nit, wer a Diandle liabt, und er küsst es nit, wer ins Wirtshaus geht, und er trinkt kan Wein, muaß a rechter Påtznlippel sein!" Ein Schelm, wer vermutet, dass Christine Lavant dieses Lied "Büaberl, mirk dir's fein" nicht nur gekannt, sondern sogar gesungen hat. Es passt doch nicht zum hohen Ton, den man dieser Dichterin so gerne unterstellen will, dass man sie beim Äpfelessen erwischt.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Robert Schumann/1810 - 1856
Titel: Symphonische Etüden für Klavier op.13
* 14. IV: Etüde 2 < Variation II > (00:03:21)
Anderssprachiger Titel: Etudes symphoniques
Solist/Solistin: Tzimon Barto /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: EMI CDC 749970 2

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