Gedanken für den Tag

von Norbert Mayer, Leitender Redakteur im Feuilleton der Tageszeitung "Die Presse". "Seit heute, aber für immer ..." - Zum 100. Geburtstag von Christine Lavant. Gestaltung: Alexandra Mantler

Du hast mich aus aller Freude geholt.
Aber ich werde dennoch genau,
ganz genau nur so lange darunter leiden,
als es mir selbst gefällig ist, Herr.
Du hast mich im Zustand der wildesten Hoffart
und des zornigsten Mutes vor dir.
Heb deine Hand und schlag mich nieder,
ich werde dann nur um so höher springen,
und du wirst mich ewig vor Augen haben,
den kleinen roten zornigen Ball.
Jede Stelle wirft mich zu dir zurück,
weil du mich von jener einzigen Stelle,
wo ich Herz war und freudig und weich wie ein Vogel,
wegholtest, um mich zusammenzuballen
und ins ewige Leiden zu werfen.

1960 wurde von Christine Lavant eine bibliophile Rarität mit nur zwölf Gedichten und drei Linolschnitten als Privatdruck veröffentlicht. Es drängt sich auf, die Texte von "Sonnenvogel" religiös zu interpretieren. Das Gedicht "Du hast mich aus aller Freude geholt", ungereimt, recht frei im Versmaß, erinnert tatsächlich an einen Psalm, der die dunkle Seite der Macht thematisiert, an eine Klage, die an das Leid des geprüften Hiob erinnert, der glaubt, von Gott verlassen worden zu sein.

Ein Herr wird angesprochen und die Sünde der wildesten Hoffart. Das Ich ist weit entfernt von Unterwerfung. Aus tiefer Verzweiflung rechtet es mit dem, der es "aus aller Freude geholt hat", es ist ein zorniger roter Ball, bereit dazu, ins ewige Leiden geworfen zu werden. Aggressiv ist die Anklage. Es geht um Liebesverrat. Zweimal wird in diesem Kontext das Wort Stelle verwendet, vielleicht als Anspielung auf Rainer Maria Rilkes Liebes-Lied, der Seele "fremde stille Stelle" bei irgendwas Verlorenem im Dunkel.

Von Lästergebeten hat Lavants väterlicher Förderer Ludwig von Ficker gesprochen, aber aus diesen 15 Zeilen kann man auch irdisch und rilkisch das Scheitern der Liebe herauslesen, einer, in der sie "Herz war und freudig und weich wie ein Vogel". Neuere Interpreten halten den oft zum Ausdruck gebrachten christlichen Hintergrund bei Lavant für sekundär, betont wird stattdessen der zwischenmenschliche Konflikt. Doch ist diese Unterscheidung tatsächlich wesentlich für Verlassene? Aus der Gnadenlosigkeit des Du zieht das Ich selbstbewusst die Konsequenz. "Du hast mich aus aller Freude geholt", lautet die Anklage. Sie wiegt in jedem Fall schwer, mag es sich nun um einen Gott oder einen Sterblichen handeln.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Robert Schumann/1810 - 1856
Titel: Sonate für Klavier Nr.3 op.14 in f-moll
* Quasi Variazioni. Andantino de Clara Wieck - 3.Satz (00:07:33)
Anderssprachiger Titel: Konzert ohne Orchester
Klaviersonate
Solist/Solistin: Christian Favre /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Claves CD 508906

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