Zwischenruf

von Martin Schenk (Wien)

"Es ist mehr möglich" - Niemand darf verloren gehen. Zukunft- und Hoffnungslosigkeit bekämpfen

Um Mitternacht läutet es an der Tür. Draußen steht ein vielleicht 15-jähriger Bursche, den Blick auf den Boden geheftet, die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben. Pascal ist von zu Hause ausgerissen. Es geht nichts mehr. Der junge Mann macht einen Schritt und steht im Eingang der Notschlafstelle.

Die KrisenstelleWàki in Linz bietet Jugendlichen täglich und rund um die Uhr Zuflucht. Das Waki in der Schubertstraße ist ein offenes Haus. Meist herrscht reges Treiben. Ein Kennenlernen und Abschiednehmen, ein Kommen und Gehen. Von herzerfrischendem Gelächter und Freudenschreien bis hin zu Tränen, Wut oder Suiziddrohungen. Innerhalb von vier Monaten wird versucht, mit den Jugendlichen einen Ausweg zu finden. Das kann ein neuer Anfang mit den Eltern, das kann ein Platz in einer Wohngruppe sein. Pascal ist zur Ruhe gekommen, die Achterbahn der Emotionen gestoppt. Er und seine Eltern versuchen, unter Begleitung, eine neue Annäherung. Immer wieder staune ich darüber, dass die Jugendlichen trotz widrigster Lebensumstände ein großes Potential für wundersame Entwicklungen mitbringen.

"Ich hab keinen Lehrabschluss, mein Leben ist sowieso gelaufen", sagt Pascal. Doch: Niemand darf so einfach verloren gehen. In Oberösterreich fängt die Diakonie junge Leute in ihrer Notschlafstelle Wàki auf, investiert in frühe Hilfen und begleitet in 237 Schulen Kinder und Jugendliche im Alltag; sie hilft beim Lernen, hat ein offenes Ohr bei Problemen und gibt Halt, wo sonst keiner wäre. Jobcoaching und Schulassistenz sind gute Beispiele für niederschwellige Angebote, also Unterstützung ohne Hürden, lebensnah, flexibel und unbürokratisch. Beispiel heißt aber auch, dass es das nur bruchstückhaft gibt. Es bräuchte aber einen flächendeckenden Ausbau von schulunterstützender Sozialarbeit, wie auch mehr Schnittstellen zwischen Schule und offener Jugendarbeit.

Österreich braucht gute Konzepte, um wirtschaftlich schlechte Zeiten zu überbrücken. Vieles wird ja nicht mehr gestaltet, sondern nur mehr erlitten. Die anhaltende europäische Austeritätspolitik treibt zu viele in die Hoffnungslosigkeit, obwohl Investitionen dringend nötig wären. Im Regierungsübereinkommen ist dazu eigentlich einiges zu finden. So wird beispielsweise im Kapitel "Wachstum und Beschäftigung" besonders auf Jugendprojekte und die großen Lücken sozialer Dienste im ländlichen Raum verwiesen. Im Kapitel "Österreich fit für die Zukunft machen" sind Gesundheitsförderung für Kinder, die Stärkung von frühen Hilfen und der Ausbau außerschulischer Jugendarbeit angeführt. In zahlreichen Abschnitten werden Investitionen in soziale Dienstleistungen angesprochen: Pflege, Kinder, Bildung können gerade jetzt als Impuls von Beschäftigung & Konjunktur genützt werden. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz OECD, hat in ihrem brandneuen Bericht die steigende soziale Ungleichheit in Europa als wirtschaftsfeindlich bezeichnet und auf die Möglichkeit verwiesen, speziell im Kinderbereich gegenzusteuern.

Wir müssen uns von vermeintlichen Sachzwängen und behaupteter Alternativenlosigkeit nicht lähmen lassen. Es ist mehr möglich. Wir können etwas tun.

Es geht darum, jungen Leuten, die als "verloren" geglaubt werden, Zukunft zu geben. Es geht darum, die Schnittstellen zwischen Schule, sozialer Arbeit und Ausbildung zu sichten und zu verbinden. Es geht darum, präventiv und frühzeitig zu helfen. Denn - abseits des persönlichen Leids - erzeugen mangelnde Investitionen und Hilfe immense soziale und gesellschaftliche Kosten. "Zunehmende Ungleichheit schwächt die Wirtschaftskraft eines Landes, sie gefährdet den sozialen Zusammenhalt und schafft politische Instabilität - aber sie ist nicht unausweichlich", sagt die OECD.

Es ist mehr möglich. Wir können etwas tun. Pascal hat mittlerweile eine Lehrstelle gefunden. Das Wàki hat dabei geholfen.

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