Zwischenruf

von Christine Hubka (Wien)

Warum gerade ich?

Ein Satz kommt mir in den letzten Wochen immer wieder ganz von selbst in den Sinn.
Eine Frage ist es, die ich nicht absichtlich herbei rufe.
Sie drängt sich mir auf.
Will ich sie weg schieben, lässt sie nicht locker.
Sie will, dass ich mich mit ihr befasse, mich ihr stelle.

Es ist die Frage: Warum gerade ich?

Warum lebe gerade ich - und natürlich viele andere mit mir -
in einem Land, in dem seit 70 Jahren Frieden ist.

Warum bekam gerade ich, als ich in jungen Jahren schwer erkrankte,
gratis und kostenlos die damals bestmögliche Behandlung.
Natürlich lag ich nicht allein im Pavillion D des alten Allgemeinen Krankenhauses.
Im Zimmer waren noch andere schwer kranke Menschen.
Auf der ganzen Abteilung.
In allen anderen Pavillions.
Wir alle bekamen die bestmögliche Behandlung. Gratis und Kostenlos.

Warum habe gerade ich als früh verwitwete Mutter ganz kleiner Kinder soziale Unterstützung erhalten, die es uns möglich gemacht hat, die Wohnung zu behalten.
Warum konnte gerade ich trotz unserer schwierigen finanziellen Verhältnisse
meine Kinder in eine gute Schule schicken, die ihnen einen qualifizierten Abschluss ermöglichte.
Warum hat dieser Schulbesuch uns nicht einen Schilling, damals waren es noch Schillinge, gekostet?
Freilich, meine Kinder saßen nicht allein in der Schule.
29 andere Kinder waren mit ihnen in der Klasse. Mehr als dreißig Klassen hatte die Schule.

Aber das Fragen geht weiter:
Warum lebe gerade ich in einer Stadt, die zu den lebenswertesten und liebenswertesten der Welt gehört. Das sage nicht nur ich. Das ist das Ergebnis von internationalen Rankings.

Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort weiß.

Freilich könnte ich auch anders fragen:

Warum musste ich so früh so schwer erkranken?
Warum ist der Vater meiner Kinder so jung verstorben?
Warum hatten wir so wenig Geld, dass sich für jeden von uns pro Jahr nur ein paar Schuhe ausgegangen ist und wir uns die Butter aufs Brot nicht leisten konnten.

Die gleiche Lebenssituation. Die gleiche Frage.
Der Unterschied könnte größer nicht sein.

Je nachdem, wie jemand fragt: Warum gerade ich, wird er oder sie leben und handeln.
So wie Abraham und Lot in der Bibel.

Beide waren begütert. Beide hatten mehr als genug zum Leben.
Aber Lot fragte: Warum muss gerade ich das kostbare Wasser der spärlichen Brunnen in dieser Wüste mit meinem Onkel Abraham teilen?
Aus dieser Frage wachsen mit der Zeit Überzeugungen, die nicht mehr als Fragen da stehen:
Mir hat auch keiner geholfen als ich es gebraucht habe.
Wir können nicht allen helfen, die in Not sind.
Die sollen erst einmal etwas leisten.

Abraham fragte: Warum gerade ich?
Warum bin gerade ich so gesegnet?
Dann überließ er dem Neffen, der sich vor dem Verdursten fürchtete, die besten Weideplätze und nahm den Rest.
Er wusste, dass er auch damit genug haben würde.

Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen hier und anderswo in Europa so zu fragen beginnen wie Abraham: Warum bin gerade ich so gesegnet?
Denn diese Frage, auf die es keine Antwort gibt, steigert die Lebensqualität und nimmt die Angst davor, Menschen in Not aufzunehmen und zu unterstützen.
Menschen, die anders als der Neffe Lot, wirklich bedürftig sind.

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