Gedanken für den Tag

3. November 2015, 06:56

Totengedenken heißt ans Leben denken. "Maly Trostinec - Das Totenbuch" erzählt vom gewaltsamen Tod von 10.000 Menschen aus Wien, die 1941 und 1942 nach Maly Trostinec deportiert und ermordet worden sind.

Und mein Leben, frage ich mich - wenn mein Leben heute zu Ende wäre, hätte ich es dann genützt oder meine Lebenszeit vergeudet? Mir fällt die Tafel an der Kirche "Am Tabor" ein, die mehr "Aufmerksamkeit und Zivilcourage" einmahnt und die mich schon gestern dazu gebracht hat, ein paar Münzen in meine Manteltasche zu stecken. Für den nächsten Bettler. Damit ich vor mir selbst keine Ausrede mehr hätte: Keine Zeit, um in der Geldbörse nach Münzen zu suchen. Ich habe die Münzen einem Bettler gegeben, wurde mit seinem Lächeln beschenkt und greife auch heute in das Glas mit den Münzen. Meine paar Euros - kein vergeudetes Geld.

Aber ich verschwende oft meine Lebenszeit. Beim Warten auf die Straßenbahn spiele ich gelangweilt mit meinem Handy oder rufe die letzten Facebook-Neuigkeiten auf, ohne an ihnen interessiert zu sein - Lebenszeit, die ich vergeude. Dabei fehlt mir ständig die Zeit für die Menschen, die mir wichtig sind. "Am Abend mit ihnen telefonieren", das nehme ich mir immer vor, aber am Abend bin ich zu müde. Und das wirklich Wichtige bleibt ungesagt. Wie viel Zeit kostet es, jemand zu sagen, dass man ihn mag? Dass man dankbar ist für seine Freundschaft? Für die Begegnung letzte Woche? Das geborgte Buch? "Weißt du, wie wichtig du für mich bist? Danke, dass es dich gibt." 30 Sekunden. Das geht sich immer aus.

Und während ich die Türe hinter mir zuziehe, überlege ich, wen ich anrufen werde, während ich gleich auf den 43er warten muss. Und hoffe, dass auch ich für jemanden so wichtig bin, dass er mir 30 Sekunden von seiner Lebenszeit schenkt, um mir das zu sagen.

Service

Buch, Waltraud Barton (Hg.), "Das Totenbuch - Maly Trostinec. Den Toten ihre Namen geben", Edition Ausblick

IM-MER. Initiative Malvine - Maly Trostinec erinnern
Edition Ausblick

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler