Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Weltpoesie ist Weltversöhnung" - Zum 150. Todestag des Dichters und Orientalisten Friedrich Rückert. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Immer hör' ich in Gedanken
Deinen Straßenlärm, Berlin,
Immer nur um Gott zu danken
Für die Gnade, daß ich ihn
Nur darf hören in Gedanken
Und so fern ihm wirklich bin."

Dieses Gedicht von Friedrich Rückert tut mir weh, weil Berlin eine meiner liebsten Städte ist. Aber wenn ich jedes Jahr einmal im Herbst in der Nähe von Schweinfurt auf Feldwegen durch Rückerts niederfränkische Landschaft gehe, verstehe ich ihn wieder. In Schweinfurt wurde Rückert 1788 geboren, dort ging er aufs Gymnasium, dort begann seine Liebe zur Kalligraphie. 1805 kam der Siebzehnjährige an die Universität Würzburg, wo er Sprachen und Mythologie studierte. Die napoleonischen Kriege weckten sein politisches Denken. In seiner lateinisch geschriebenen Dissertation in Jena pries er die deutsche Sprache als ideales Medium der Übersetzung - damit formulierte er sein Lebensprogramm. Schnell verschwand er wieder von der Universität, um ganz für seine Dichtung zu leben. 1817 machte er sich auf eine einjährige Reise durch die Schweiz und Italien. 1820 hatte er die entscheidende Begegnung seines Lebens mit Luise, die seine Frau und lebenslange Liebe wurde.

Jetzt brauchte Friedrich Rückert eine Anstellung. Mit etlichen Schwierigkeiten wurde er Professor für orientalische Sprachen und Literaturen in Erlangen. 1841 berief ihn der preußische König an die Universität Berlin. Jetzt hätte er die Früchte seines Erfolges genießen können, aber da stand er sich selbst im Weg. Er war nicht hauptstadttauglich, wollte nichts als weg und zurück in sein Frankenland, in das von seiner Frau geerbte Haus in Neuses bei Coburg. Dort hat er dann bis an sein Lebensende am 31. Jänner 1816 geschrieben, übersetzt und gedichtet. Als Gegengewicht zur Weltliteratur brauchte er die regionale Heimat; und die Familie.

Rückert war Vater von zehn Kindern, für und über die er viel geschrieben hat, darunter auch viele lehrhafte Sentenzen aus der Pädagogik des 19. Jahrhunderts. Aber die folgenden Zeilen Rückerts gelten in der beschleunigten Welt von heute noch mehr als zu seinen Zeiten; sie fallen mir oft ein, wenn ich mit meinen Kindern zusammen bin:

"Von deinen Kindern lernst du mehr als sie von dir;
Sie lernen eine Welt von dir, die nicht mehr ist,
Du lernst von ihnen eine, die nun wird und gilt."

Service

Buch, Friedrich Rückert, "Kindertodtenlieder und andere Texte des Jahres 1834", Wallstein Verlag (=Friedrich Rückerts Werke. Historisch-kritische Ausgabe "Schweinfurter Edition")
Annemarie Schimmel (Hg.), "Friedrich Rückert, Ausgewählte Werke", Insel Verlag
Walter Schmitz (Hg.), "Friedrich Rückert, Gedichte", Reclam Verlag
Friedrich Rückert, "Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohns", Wallstein Verlag
"Der Koran". Übersetzt von Friedrich Rückert. Anaconda Verlag
Friedrich Rückert. "Die Weisheit des Brahmanen", Anaconda Verlag
Annemarie Schimmel, Friedrich Rückert, "Lebensbild und Einführung in sein Werk", Wallstein Verlag
Rudolf Kreutner (Hg.), "Der Weltpoet. Friedrich Rückert 1788 - 1866. Dichter, Orientalist, Zeitkritiker", Wallstein Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Gustav Mahler/1860 - 1911
Titel: Symphonie Nr.9 in D-Dur / 1.bis 3.Satz
* Im Tempo eines gemächlichen Ländlers. Etwas täppisch und sehr derb - 2.Satz (00:16:01)
Orchester: Wiener Philharmoniker
Leitung: Lorin Maazel
Länge: 02:00 min
Label: CBS 39721

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