Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche". "Die Wirklichkeit hat unzählige Formen" - Zum 100. Todestag von Henry James. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Die menschliche Natur ist unermeßlich"

Aufgewachsen ist Henry James in jener amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, über die er später so viel schreiben wird: Vorfahren sind zu viel Geld gekommen, das liegt nun auf der Börse und die Nachfahren profitieren davon, so sie nicht enterbt wurden. Auch Henry James Vater kann mit seiner Familie nach Lust und Laune Europa bereisen und dort wohnen. Und er kann seinem Interesse, der Religion, nachgehen. Vor allem Emanuel Swedenborg und seine Visionen, aber auch moralische und soziale Fragen haben es ihm angetan. Des Vaters Ideen, viele Bücher und ein unstetes Leben prägen die Kindheit von Henry James. Ständig werden die Wohnorte gewechselt, weil keine Schule gut genug ist: Schweiz, Paris, London, dann wieder New York, Newport, dann wieder Europa: Das ist die Atmosphäre, in der Henry James, der spätere Schriftsteller, und sein älterer Bruder, William, der spätere Psychologe und Philosoph, aufwachsen.

Wahrzunehmen ist in Henry James Romanen dann trotz seines sogenannten Realismus ein Interesse an dem, was die sogenannte wirkliche Welt übersteigt. In seinen Geistergeschichten kann er es literarisch ausleben. Wahrzunehmen ist aber auch ein Interesse daran, wie Moral funktioniert, ein Interesse an äußeren und inneren Normen, an Wahrnehmung und Bewusstsein, mit dem sich sein Bruder William wissenschaftlich auseinandersetzen wird, während Henry, wie er selbst sagt, "einfach nur literarisch" werden will.

Einfach nur literarisch werden, das wird für ihn Kunst und harte Arbeit bedeuten, aber auch Freiheit. "Kunst lebt von Diskussion, vom Experiment, von Wissensdrang, von der Variation der Versuche, vom Austausch der Ansichten und dem Vergleich der Standpunkte", gibt er sich in seinem berühmten Essay "Die Kunst des Romans" überzeugt. Der Roman soll nach Henry James das Leben darstellen, er soll berühren. Wege das zu erreichen, gibt es viele. Dafür soll es keine Regeln geben, denn: "Die menschliche Natur ist unermesslich, und die Wirklichkeit hat unzählige Formen, das Äußerste, was man bestätigen kann, ist, dass einige Blumen der Dichtung ihren Duft haben und andere nicht, doch dir im Voraus zu sagen, wie dein Strauß zusammengestellt sein sollte, ist eine andere Sache."

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Titel: GFT 160223 Gedanken für den Tag / Brigitte Schwens-Harrant
Länge: 03:49 min

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