Zwischenruf

von Superintendent Olivier Dantine (Innsbruck)

Lohnt es sich noch zu arbeiten? Immer wieder wird diese Frage gestellt. Oft dient diese rhetorische Frage dazu, die Höhe von Sozialleistungen in Frage zu stellen. Besonders geht es dabei wohl um die bedarfsorientierte Mindestsicherung. Welchen Anreiz hätte es noch zu arbeiten, wenn das Entgelt für geleistete Arbeit kaum höher sei als die Sozialleistung?

Was mich besonders nachdenklich macht ist, wie es dazu kommen kann, dass zum einen jegliche Kritik an astronomisch hohen Gehältern in manchen Bereichen unterbunden wird. Dies geschieht dann mit dem Verweis der Schädlichkeit einer sogenannten Neiddebatte. Auf der anderen Seite scheint es aber keine Hemmungen zu geben, den Neid von unterdurchschnittlich verdienenden Arbeitnehmern auf die Menschen zu schüren, die auf Mindestsicherung angewiesen sind. Dabei geht es dann immer wieder auch um Flüchtlinge.

Mich erinnert dies an das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg: Jesus erzählt von einem Weinbergbesitzer, der mit den Tagelöhnern, die er in der Früh anheuert, den üblichen Tageslohn von einem Denar aushandelt. Der Betrag war, so würde man heute sagen, das tägliche Existenzminimum für eine Familie. Dieser Weinbergbesitzer geht noch mehrmals an diesem Tag zu den übrigen auf Arbeit wartenden Tagelöhnern und stellt immer wieder welche ein. Am Ende gibt es auch eine Gruppe von Tagelöhnern, die nur eine Stunde arbeiten. Schließlich zahlt der Weinbergbesitzer jedem den gleichen Betrag aus: einen Denar. Sofort bricht unter denen, die seit der Früh gearbeitet haben, die Diskussion aus: Wozu haben wir den ganzen Tag in der Hitze geschuftet, wenn es für nur eine Stunde Arbeit den gleichen Lohn gegeben hätte? Aber der Weinbergbesitzer hat den Fleißigen ja nichts weggenommen, so argumentiert dieser, der vereinbarte Lohn ist bezahlt worden.

Je nachdem, aus welcher Perspektive man sich dieses Gleichnis ansieht, wird man den Weinbergbesitzer belächeln, weil er am nächsten Tag kaum Menschen finden würde, die den ganzen Tag für ihn arbeiten. Oder man kann sehen, dass es ihm daran gelegen ist, jedem Arbeiter das zu geben, was er und seine Familie zum Leben brauchen. Weil er nicht nach Leistung bezahlt, sondern nach dem Bedarf der Menschen, sichert er allen seinen Arbeitern für den einen Tag einen vollen Bauch. Von hungernden Tagelöhnern hingegen wird der Weinbergbesitzer am nächsten Tag wohl keine Leistung erwarten können. Vielleicht ist er doch nicht so naiv, wie es zunächst erscheint.

Wenn die Mindestsicherung bedarfs- und nicht leistungsorientiert ist, heißt das noch lange nicht, dass auf diese Weise Faulheit belohnt wird. Ganz im Gegenteil. Die Mindestsicherung hat den Zweck der sozialen Absicherung. Sie bewahrt Menschen vor der Abwärtsspirale, aus der eine Wiedereingliederung in ein geregeltes Leben immer schwieriger wird. Besonders deutlich wird das bei anerkannten Flüchtlingen, für sie ist die Mindestsicherung entscheidend: Sozial abgesichert können sie eine angemessene Wohnung finden, können Qualifikationen, allen voran Sprachkenntnisse, erwerben. Denn die brauchen sie, um dann ihren Beitrag für die Gesellschaft leisten zu können.

Bleibt noch meine Frage vom Anfang: Welchen Anreiz gibt es dann noch zu arbeiten, wenn man doch unter bestimmten Bedingungen auch anders versorgt wird? Diese Frage verbirgt die Tatsache, dass es wohl auch viele andere Anreize gibt, zu arbeiten. Bei Arbeit geht es nicht allein um die Sicherung des Einkommens. Weil sie einem ermöglicht, an der Gesellschaft teilzuhaben, macht Arbeit zufrieden. Ich bin jedenfalls dankbar, dass ich mit meinen Gaben und Fähigkeiten anderen Menschen dienen darf und der Gesellschaft einen, wie ich meine, wertvollen Beitrag leisten darf. Und ich bin dankbar dafür, in einem Land zu leben, das auch für Menschen sorgt, die dieses Glück nicht haben.

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