Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Früher oder später muss man Partei ergreifen, wenn man ein Mensch bleiben will". Gestaltung: Alexandra Mantler

In Studientagen bin ich einmal fast ergriffen in einem Kinosaal gesessen, um einen Film zu sehen, der nur aus einem Gespräch mit Max Frisch bestand. Der Autor als öffentliche Person, die sich einmischt und vor allem in politischer Hinsicht zu Wort meldet - das war mein Ideal. Darum habe ich auch die Tagebücher von Frisch über alles geschätzt.

Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Wenn ich die gut 800 Seiten seiner beiden berühmten Tagebücher wieder durchblättere, stoße ich auf allzu viel vorgezeigte Weltläufigkeit, auf eine etwas penetrant zur Schau gestellte Nähe zu den großen Namen der internationalen Politik und Kultur, ja manchmal auch einfach auf allzu viel Meinung, und das hat einem Schriftsteller noch nie gut getan.

Doch an einem Element der Frisch-Tagebücher bleibe ich hängen, wann immer und wie oft ich sie auch zur Hand nehme: An den darin enthaltenen Fragebögen. Manche ihrer Fragen sind ganz einfach, wie etwa: "Was fehlt Ihnen zum Glück?" Diese Frage habe ich im Lauf der Jahre still und leise immer wieder anders beantwortet. Jetzt bin ich gerade seit langem wieder in der Lage zu sagen: Eigentlich nichts.

Die letzte Frage des letzten Fragebogens lautet: "Wieso weinen die Sterbenden nie?" Und ich denke dabei an den einzigen Menschen, den ich sterben gesehen habe, an meine Mutter vor über fünf Jahren, und kann es kaum fassen, warum ich auf diese Frage nicht selbst gekommen bin, aber eine Antwort weiß ich nicht.

Am meisten beschäftigt mich noch immer der Fragebogen über die Hoffnung. "Wissen Sie in der Regel, was Sie hoffen?", lautet die erste Frage. Da könnte ich einiges anführen, aber immer mit dem Gefühl, dass das noch nicht alles ist. Und so würde die Liste länger und länger, und gerade dadurch jedes einzelne Element entwertet. An der letzten Frage hänge ich, seit ich sie zum ersten Mal gelesen habe: "Wenn Sie einen Toten sehen: Welche Hoffnungen kommen Ihnen belanglos vor, die unerfüllten oder die erfüllten?" Lange war ich sicher, dass für mich die unerfüllten Hoffnungen die wichtigeren sind, aber nach einigen Diskussionen darüber bin ich mir nicht mehr sicher. So kann ich diese Frage nur stehen lassen und weitergeben: "Wenn Sie einen Toten sehen: Welche Hoffnungen kommen Ihnen belanglos vor, die unerfüllten oder die erfüllten?"

Service

Graham Greene, "Der dritte Mann", Paul Zsolnay Verlag
Graham Greene, "Die Kraft und die Herrlichkeit", dtv
Graham Greene, "Unser Mann in Havanna", dtv
Graham Greene, "Das Ende einer Affäre", dtv
Graham Greene, "Die Reisen mit meiner Tante", dtv
Graham Greene, "Der stille Amerikaner", dtv
Graham Greene, "Das Herz aller Dinge", dtv
Evelyn Waugh, "Wiedersehen mit Brideshead", Diogenes Verlag
Evelyn Waugh, "Ohne Furcht und Tadel", Diogenes Verlag
Evelyn Waugh, "Tod in Hollywood", Diogenes Verlag
Max Frisch, "Tagebuch 1946 - 1949", Verlag Suhrkamp
Max Frisch, "Tagebuch 1966 - 1971", Verlag Suhrkamp
Max Frisch, "Stiller", Verlag Suhrkamp


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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: George Gershwin/1898 - 1937
Bearbeiter/Bearbeiterin: Samuel Dushkin /Arrangement/1891 - 1976
Album: PASSIONE AMOROSA - Virtuose Werke von Kreisler, Gershwin, usw.
Titel: Short story / Bearbeitung für Violine und Klavier
Ausführende: Le Virtuose Romantique
Ausführender/Ausführende: Robert Zimanski /Violine
Ausführender/Ausführende: Gerard Wyss /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: harmonia mundi HMC 905209

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