Gedanken für den Tag

von Oliver Tanzer, Autor und Leiter des Wirtschaftsressorts der "Furche". "Das Kapital, die Arbeit und die Menschenwürde". Gestaltung: Alexandra Mantler

Wer für Arbeit zahlt

Gestern ging es um den Wert und den Unwert. Heute geht es um meine Großmutter. Die wurde immer misstrauisch, wenn sie etwas von Fremden geschenkt bekam - und sei es von der Bank am Weltspartag. "Gratis ist nix wert", hieß es dann barsch. Die Omama ist lange tot. Aber wenn sie heute in der Früh am U-Bahnausgang eine Zeitung in die Hand geschenkt bekommen würde, sie würde vermutlich wieder sagen: "Gratis is nix wert".

In Centesimus annus hat Johannes Paul II. die Verantwortung der Medien eingemahnt, die den Menschen, Zitat: "mit der Macht einer geradezu organisierten Zähigkeit Moden und Meinungstrends aufzwingen" und über die Probleme der Ökonomisierung hinwegtäuschen.

Heute ist der Journalismus selbst ökonomisiert. Er will es nur nicht wahrhaben. Gemeinhin verurteilt eine immer weiter schrumpfende Zahl an Qualitätsmedien die Gratismedien wegen minderwertigem Journalismus. Aber seien wir ehrlich: Schlechte Presse gab es immer, so wie auch Abnehmer für sie. Der Unterschied von heute zu damals ist nicht das Qualitätsniveau, es ist der Arbeitgeber, der sich gewandelt hat.

Zu Beginn des Zeitungswesens wurde die Arbeit des Journalisten vom Leser bezahlt, der die Zeitung kaufte. Heute bezahlen die Anzeigenkunden den Journalisten. Der Anzeigenkunde hat den Leser hinausgekauft. Und wir, die Gratis-Leser brauchen uns nicht darüber aufzuregen, dass wir in die Irre geführt werden. Denn tatsächlich geht es hier um Arbeit. Wer für die Arbeit zahlt, schafft an. Wer nicht zahlt, nicht. Das Wort gratis hat seinen Ursprung im lateinischen Wort für Dank. Sollen wir also dankbar sein? Für das Geschenk, das wir täglich unaufgefordert bekommen? Oder dafür, dass wir Leser unsere ökonomische Macht, unsere Zahlmacht abgegeben haben?

Meine Großmutter lag nicht ganz richtig. Es sollte nicht heißen "gratis ist nichts wert" sondern "nichts ist gratis" - im Gegenteil, gratis kann sehr, sehr teuer sein.

Service

Oliver Tanzer, "Lilith und die Dämonen des Kapitals", Hanser-Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Titel: GFT 160427 Gedanken für den Tag / Oliver Tanzer
Länge: 03:49 min

Komponist/Komponistin: George Gershwin/1898 - 1937
Album: GERSHWIN FOR LOVERS / MARCUS ROBERTS
Titel: Nice work if you can get it/instr. / aus dem Film "A damsel in distress"
Solist/Solistin: Marcus Roberts /Piano m.Begl.
Ausführender/Ausführende: Reginald Veal /Bass
Ausführender/Ausführende: Herlin Riley /Drums
Länge: 02:00 min
Label: Columbia COL 4777522

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