Zwischenruf

von Christine Hubka (Wien)

Acht Stunden Fabriksarbeit am Tag sind genug. Als die Arbeiter in Chicago vor 130 Jahren für dieses Anliegen auf die Straße gingen, war auch der Samstag ein voller Arbeitstag. Die Forderung der Demonstrierenden lautete: Sechs Tage zu acht Stunden, also 48 Stunden am Fließband in der Woche sind genug.

Aus heutiger Sicht ein bescheidenes Anliegen. Damals, im Jahr 1886, hielten manche, wenn nicht sogar viele, diese Forderung für unerfüllbar und vor allem auch für unverschämt. Es kam zu Ausschreitungen bei den Demonstrationen. Es gab Tote. Todesurteile gegen die Anführer der Arbeiter wurden ausgesprochen und vollstreckt.

Die Kirchen haben lange gebraucht, bis sie das Anliegen der Arbeiter und Arbeiterinnen nach besseren und faireren Arbeitsbedingungen unterstützt haben. Vielleicht haben sie die Situation der Fabriksarbeiterinnen einfach nicht sehen können, weil ihr Blick zu sehr auf das Jenseits gerichtet war. Wer mit dem Herzen und dem Hirn dorthin vorauseilt, der relativiert unversehens die Not des Menschen hier und jetzt. Wer im Geist schon die Legionen der Engel singen hört, überhört allzu leicht die leise Klage der Erschöpften und Erbitterten. Wer die eigene Stimme jetzt schon übt, um dereinst in diesem Chor der Engel mitzusingen, gibt denen nicht seine Stimme, die faire Arbeitsbedingungen und gerechte Bezahlung fordern.

Der 1. Mai fällt heuer nicht nur auf einen Sonntag. Der heutige Sonntag trägt im evangelischen Kalender auch noch den Namen Rogate. Das heißt übersetzt: Betet! Beten ist schon seit einer Weile doppelt in Verruf gekommen. Betende Menschen werden einerseits als unrealistische Träumer belächelt. Ich denke jetzt nicht an das ganz persönliche Gebet im stillen Kämmerlein. Im Wald und auf der Heide. Am Berg und in der Straßenbahn. Ich denke an das Gebet der versammelten christlichen Gemeinde.

Mir scheint, dass die Meinung vorherrscht: Entweder du betest in der Kirche oder du krempelst die Ärmel auf und tust gemeinsam mit anderen etwas. Entweder du gehst in den Gottesdienst oder du gehst auf die Straße und trittst für die Rechte von Entrechteten ein.

In jüngster Zeit ist Beten aber noch auf andere Weise in Verruf gekommen. Wer betet, macht sich verdächtig. Die Bilder von riesigen Menschenmengen, die sich wöchentlich unter freiem Himmel zum Freitagsgebet zusammen finden, befremden und beängstigen manche. Wie gut sind diese Betenden aufeinander abgestimmt. Wie einheitlich bewegen sie sich. Wie klar orientieren sie sich alle gemeinsam in dieselbe Richtung. Ich habe die Frage noch nie so ausgesprochen gehört, aber sie schwingt in Gesprächen mit: Sind diese vielen betenden Menschen nicht gefährliche Leute?

Das bringt mich zu einer Gegenfrage: Wieso werden Menschen, die gemeinsam im Gottesdienst beten, einmal als gefährlich ein anderes Mal als schlaff und träge, als verschlafen und naiv angesehen? Denn auch das Beten der versammelten christlichen Gemeinde hat Kraft, und es hat auch eine politische Dimension.

Von Dietrich Bonhoeffer, einem evangelischen Märtyrer der Nazizeit, ist der Ausspruch überliefert: "Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen." Statt der Juden kann und soll hier und heute nach Bedarf und Bedürftigkeit jede andere Gruppe von Menschen eingesetzt werden.

Ich erinnere mich noch gut an die Zeit vor der Wende im ehemaligen Ostdeutschland. Da versammelten sich ganz viele in den Leipziger Kirchen zum Friedensgebet. Anschließend gingen sie mit Kerzen auf die Straße. Gewaltfrei. Entschlossen. Unaufhaltbar. Das Ergebnis ist bekannt: Die Grenzzäune fielen. Das Schießen auf sogenannte Republikflüchtlinge hörte auf.

Freilich, man kann auch Demonstrieren und Aufmärsche machen, ohne vorher gemeinsam gebetet zu haben. Aber mir scheint, dass die Gefahr von gewalttätigen Entgleisungen geringer wird, wenn die Demonstrierenden aus einer Kirche heraus auf die Straße gehen. Denn das Gebet, das sich auf Jesus beruft, stellt Gegner immer auf eine Ebene. Keiner ist mehr wert vor Gott als der andere. Keiner ist weniger wert. Für Kampf bis aufs Blut, für Verachtung ist da kein Platz. Die Auseinandersetzung gilt ausschließlich Haltungen und Handlungen. So gesehen ist das Beten der Gemeinde ein unerhört demokratischer Vorgang.

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