Zwischenruf

von Pfarrerin Sieglinde Pfänder (Oberwart, Burgenland)

Am Ufer eines kleinen Flusses wohnten einmal zwei Familien. Die eine wohnte am rechten Ufer, die andere am linken Ufer. Beide waren wohlsituiert, pflegten aber einen ganz unterschiedlichen Lebensstil.

Während die Familie auf der linken Seite sehr liberal und weltoffen war, legte die Familie auf der rechten Seite sehr viel Wert auf klare Abgrenzung.

Während die Familie auf der linken Seite sehr viel Wert auf Bildung und Gleichberechtigung legte, ja sogar für die Gleichstellung von homosexuellen Beziehungen eintrat, sich feministisch und immer auch fremdenfreundlich gab und sich gezielt für Minderheiten einsetzte, zog die Familie auf der rechten Seite lieber ganz deutliche Grenzen um ihr Grundstück, baute immer wieder auch neue und immer höhere Zäune auf, benannte klar die Sündenböcke für offensichtliche Defizite, sprach sich deutlich für Heimatverbundenheit und Nationalbewusstsein aus und war darum bemüht, die ganz persönlichen Ängste der eigenen Familienmitglieder ernst zu nehmen.

Die Unterschiede lagen klar auf der Hand. Die Differenzen waren offensichtlich. Was für ein Glück, dass der Fluss die beiden Familien voneinander trennte! Die einen schimpften von der rechten Seite, die anderen von der linken. Wenn es ganz schlimm wurde, dann bewarfen sie sich sogar mit Schlamm und Dreck . und hin und wieder sogar mit Steinen.

Die erreichten zwar nie das andere Ufer, da die Distanz einfach zu groß war, aber der Symbolcharakter dieser Aktionen war für beide Seiten so verletzend, dass es irgendwann einfach nicht mehr möglich war, sich der anderen Seite auch nur irgendwie zuzuwenden. Jetzt konnten sie nicht einmal mehr streiten und sich beschimpfen, sich anschauen und wenigstens an der Reaktion des Gegenübers erkennen, welchen Handlungsbedarf es gab. Daher wandten sie sich immer öfter und intensiver voneinander ab und waren einfach nur froh darüber, dass der Fluss sie voneinander trennte.

Eines Tages, nachdem es schon wochenlang in Strömen geregnet hatte, trat der Fluss über seine Ufer. Zuerst dehnte er sich auf die rechte Seite des Ufers aus und dann auf die linke. Fast zur gleichen Zeit überflutete er die Häuser beider Familien. Das Wasser stand ihnen von einer Sekunde zur anderen bis zum Hals. Der Sog war so groß, dass er sie aus ihren Häusern hinauszog. Sie konnten nichts mitnehmen, sie kämpften nur um ihr nacktes Leben. Die Familie von der rechten Seite des Ufers kämpfte genauso verzweifelt, wie die Familie von der linken Seite des Ufers.

Wie durch ein Wunder wurden sie gerettet. Denn aus dem Schlamm und dem Dreck und den Steinen, mit denen sie sich beworfen hatten, war ein kleiner Damm geworden. In diesem Damm hatten sich Äste und Wurzeln verfangen, die den Wassermassen Stand hielten. Daran konnten sie sich jetzt festhalten. Während die Dickköpfigen verzweifelt darum stritten, wem denn nun der Platz auf dem Damm zustand, erkannten die Weitsichtigen der beiden Familien, dass es jetzt höchste Eisenbahn war, zusammenzuhalten, wenn sie alle überleben wollten.

Während die Sturen zueinander sagten: "Verschwinde, ich schaff das allein!", reichten die Weitsichtigen der beiden Familien einander die Hand, um sich gegenseitig zu helfen. Während die einen den Blick entnervt voneinander abwandten, wandten sich die anderen einander neugierig zu . und suchten nach gemeinsamen Lösungen, einem klassischen Kompromiss für ihr Problem.

Während die einen sich wütend und zutiefst gekränkt in sich selbst verkrochen, kamen die anderen miteinander ins Gespräch und klärten ihre Positionen. Während die einen nur verzweifelt auf die linke Seite des Ufers starrten und die anderen auf die rechte, fingen die Weitsichtigen beider Familien an, mit Worten und in Gedanken eine Brücke zu konstruieren, die tragfähig war und belastbar.

So wurden aus Kontrahenten teamfähige Partner, die sich um eine gemeinsame Lösung bemühten, bei der keiner das Gesicht verlor. Als sich das Wasser endlich zurückzog, war der Plan für die Brücke fertig ... und damit ein erster Schritt in eine friedliche Zukunft getan.

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