Gedanken für den Tag

von Johanna Schwanberg, Leiterin des Dommuseums Wien. "Der Jenseitsmaler" - Zum 500. Todestag von Hieronymus Bosch. Gestaltung: Alexandra Mantler

Ein riesiger hellblau-gräulicher Tunnel. Dahinter ein strahlendes, weißliches Licht. Zwei Menschen befinden sich in dem Lichtkanal und blicken gegen die unbeschreibliche Helligkeit. Dort erwartet sie eine Engelsgestalt. Sie ist im grellen Gegenlicht kaum zu erkennen.

Was für ein unglaublich zeitgemäßes - oder besser gesagt zeitloses - Bild, denke ich mir jedes Mal, wenn ich diese Darstellung betrachte. Gemalt hat sie Hieronymus Bosch vor einem halben Jahrtausend, rund um die Jahre 1505 bis 1515. Die schmale hochformatige Eichenholztafel gehört zu einem vierteiligen Bild-Ensemble von Jenseits-Visionen, das in Venedig zu Hause ist. Inhaltlich erinnert die Darstellung frappant an zahlreiche Schilderungen von Nahtoderfahrungen, in denen immer wieder von einem Schweben in einem Tunnel die Rede ist, an dessen Ende ein helles Licht leuchtet.

Hieronymus Bosch ist einer der kreativsten und innovativsten Köpfe der Kunstgeschichte. Auch wenn wir fast nichts über ihn als Menschen wissen, so sehe ich an seiner Kunst, dass er stets gerungen hat. Zeit seines Lebens hat er versucht, die Wirklichkeit neu zu sehen und sie durch die Welt seiner überbordenden Fantasie zu bereichern.

Und er hat versucht, die Malerei zu erneuern. Durch kühne formale Lösungen. So hat er den kleinen zuvor beschriebenen Engel nass-in-nass in die pastose weiße Farbe gepinselt. Noch überraschender sind die Rückseiten der Jenseits-Tafeln. Auf ihnen erzeugte Bosch eine Farbspritzer-Marmorierung, die an moderne Bilder des Abstrakten Expressionismus erinnert.

Mich begeistert neben den malerischen Qualitäten besonders die Ernsthaftigkeit, mit der sich Bosch den letzten Fragen gewidmet hat.

Ich habe zwei nahe Familienangehörige in jungem Alter verloren. Daher musste ich mich intensiv mit dem Tod auseinandersetzen. Wie gerne wüsste ich, wohin der Weg nach dem Tod tatsächlich führt. Wenn es wirklich das helle leuchtende Licht ist, das Bosch auf seiner Jenseits-Tafel als positive Vision eines Jenseits zeichnet, dann stimmt es mich bei all der Angst vor der eigenen Endlichkeit zumindest zuversichtlich.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Titel: GFT 160730 Gedanken für den Tag / Johanna Schwanberg
Länge: 03:49 min

Komponist/Komponistin: Guiraut Riquier/wirkte 1250 - 1292
Bearbeiter/Bearbeiterin: Joyce Todd /Arrangement
Album: THE ROMANCE OF THE ROSE: Frauenstimmen aus dem französischen Mittelalter
Titel: Estampie - für Kammerensemble
Ausführende: HelioTrope
Solist/Solistin: Joyce Todd /Schlagzeug, Harfe
Solist/Solistin: Natalie Cox /Harfe
Solist/Solistin: Shira Kammen /Drehleier, Rebec
Solist/Solistin: Kit Robberson /Vielle, Drehleier
Länge: 02:00 min
Label: Koch International Classics

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