Gedanken für den Tag

von Wolfgang Müller-Funk, Kulturphilosoph und Essayist. "Dialog: Über das Reden mit Anderen und Anderem". Gestaltung: Alexandra Mantler

In seinem Buch "Der Stachel des Fremden" spricht der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels davon, dass die meisten Dialoge überwiegend die Summe von Monologen sind. Jeder, der einmal an interkulturellen oder interreligiösen Gesprächen teilgenommen hat, hat diese Erfahrung gemacht: Da kommen Menschen und Delegationen zusammen, die ihre sogenannten Standpunkte austauschen. Jeder hält einen Monolog über seine Religion, seine Kultur, sein Land und seine Region und erwartet dabei höfliche und respektvolle Behandlung. Jeder und jede stellt eine kleine Insel dar, die vom symbolischen Terrain des anderen getrennt ist.

Dieser diplomatische Dialog ist gewiss hilfreich. Indem wir freundlich mehr übereinander als miteinander reden, bleiben Gewalt und Aggression gleichsam gebannt. Dieser Effekt macht die Magie des Dialogischen aus. Der Dialog erscheint dabei, wie Waldenfels es ausdrückt, als "Monolog mit verteilten Rollen". Das gilt vor allem dann, wenn davon ausgegangen wird, dass es nur die eine Logik und überhaupt nichts anderes als das Logische geben kann.

Das gemeinsame Monologisieren hat aber noch eine andere Funktion. Es soll uns vor der radikalen Konsequenz des Dialogischen bewahren. Je intensiver nämlich ein Dialog, ein Gespräch miteinander, ist, umso deutlicher tritt zutage, dass der Dialog nicht ein Instrument darstellt, Standpunkte ein für allemal zu bewahren, sondern dass der Dialog alle Beteiligten verändert.

Den eigenen Standpunkt zu bewahren, bedeutet immer, sich nicht dem anderen ausliefern zu wollen. Ich habe es bei keinem öffentlich inszenierten Gespräch erlebt, dass ein Teilnehmer bekundete, er habe sich geirrt oder sein Gegenüber habe ihn überzeugt? Wir wollen Haltung bewahren und uns vor dem anderen schützen. Der absolute Minuspol ist dann erreicht, wenn wir uns anschreien.

Im Gegensatz dazu wirken alle dialogischen Beziehungen, die kleine und große Kulturen miteinander unterhalten, verändernd. Alle ,Weltreligionen' sind durch Austausch entstanden. Der deutsche Soziologe Georg Simmel hat die Funktionsweise von Kulturen anhand der Tür beschrieben. Türen öffnen sich und Türen schließen sich. Im Dialog wird der Mechanismus von Öffnen und Schließen erprobt.

Service

Wolfgang Müller-Funk, "Theorien des Fremden. Eine Einführung", UTB Verlag
Bernhard Waldenfels, "Der Stachel des Fremden", Suhrkamp Taschenbuch

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Sergej Rachmaninoff/1873 - 1943
Gesamttitel: Etudes Tableaux für Klavier op.39
Titel: Etude Tableau op.39 Nr.3 in fis-moll, allegro molto
Solist/Solistin: Vladimir Ashkenazy /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Decca 4000812

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