Gedanken für den Tag

von Wolfgang Müller-Funk, Kulturphilosoph und Essayist. "Dialog: Über das Reden mit Anderen und Anderem". Gestaltung: Alexandra Mantler

In seinem Film "Hable con ella/Spricht mit ihr" erzählt der spanische Filmemacher Pedro Almodovar die tragikomische und groteske Geschichte des Krankenpflegers Benigno, der sich in die Ballettschülerin Alicia verliebt hat. Als die junge Frau Opfer eines Verkehrsunfalls wird, lässt er sich als Pfleger der Wachkoma-Patientin anstellen. Und während er zuvor viel zu schüchtern war, die junge Frau anzusprechen, spricht er nun den ganzen Tag mit der bewusstlosen Frau, besucht das Kino, in das sie zu gehen pflegte, oder auch andere Lieblingsorte der Frau und erzählt von seinem und ihrem Alltag.

Der Film geht nicht gut aus, weil der Pfleger der Patientin immer näher kommt, aber das dialogische Prinzip siegt am Ende. Völlig unerwartet erwacht nämlich die Frau aus dem Koma. Freilich ist sie zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger, ganz offenkundig von ihrem Pfleger. Obwohl wir eigentlich den Pfleger wegen sexuellen Missbrauchs verurteilen müssten (wie das Gericht es auch tut), schafft es die Filmkunst Almodovars, dass wir seinen Protagonisten nicht verdammen können, sondern dessen Schicksal im Gefängnis bedauern. War das, was er getan hat, nicht auch die Intensivierung jenes obsessiven Dialogs, den er mit der stummen Frau gepflegt hat? Und war es nicht diese Kommunikation, der die Frau ihr neues Leben verdankt?

Der Filmtitel zitiert eine Aufforderung Benignos an einen anderen Mann, dessen Geliebte ebenfalls schwer verletzt und bewusstlos im Spital liegt: Du musst mit ihr sprechen. Wir sind Lebewesen, die ohne Dialog verkümmern. Diese Aufforderung lässt sich über die intime Situation hinaus auch so verstehen, dass Dialog nicht einfach ein Mittel, sondern immer schon ein Selbstzweck ist, auf der privaten wie auf der öffentlichen Ebene. Menschen, die sich in einer dialogischen Beziehung befinden, haben eben das gemein, dass sie miteinander sprechen, sich akzeptieren und einander zuwenden, kurzum den oder die andere respektieren. Insofern ist der Dialog immer ein Selbstzweck in einer Welt, die nicht aufhört, von Menschen bewohnt zu sein, die immer anders und fremd sind. Wir sprechen miteinander, weil wir uns niemals vollständig verstehen werden. Auf diesem Paradox beruht alle Ethik des Dialogischen.

Service

Wolfgang Müller-Funk, "Theorien des Fremden. Eine Einführung", UTB Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Sergej Rachmaninoff/1873 - 1943
Gesamttitel: 7 Preludes aus op.32 von Sergej Rachmaninoff
Titel: Prelude Nr.10 op.32 in f-moll für Klavier - Lento
Solist/Solistin: Svjatoslav Richter /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: JVC VDC 1026

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